nd-aktuell.de / 14.08.2021 / Politik / Seite 4

Der Staat als Retter, Helfer, Finanzier

Der Neoliberalismus wollte den Staat kleinhalten, um die Marktkräfte zu entfesseln. Doch zu diesem Zweck braucht es heute die Hilfe der Politik

Stephan Kaufmann

Er war lange der Feind radikaler wie gemäßigter Linker: der Neoliberalismus. Seine Erzählung von den wohltuenden Wirkungen freier Märkte und schlanker Staaten schweißte progressive Kräfte zu einer Gegnerschaft zusammen, die wirkungslos blieb. Inzwischen jedoch haben diverse Klima-, Finanz- und Wirtschaftskrisen der Welt die Bedeutung starker Staaten vor Augen geführt. »Die Ära des Neoliberalismus geht zu Ende«, folgert der Historiker Herfried Münkler. Doch das stimmt nur zum Teil. Praktische Politik wie auch die Wahlprogramme der Parteien zeigen: Als menschheitsbeglückende Ideologie ist der Neoliberalismus ziemlich tot. Doch seine Ziele gelten weiterhin.

Der Neoliberalismus war nie ein konsistentes Theoriegebäude, sondern eher ein Set politischer Maßnahmen, die sich ausgehend von den USA ab den 80er Jahren weltweit durchsetzten. Durch Privatisierungen, Freihandel und Deregulierung der Finanzmärkte sollte Investoren neue Anlagesphären für ihr Kapital erschlossen werden. Sinkende Kapitalsteuern, Lohnzurückhaltung, Arbeitsmarktflexibilisierung und Sozialabbau sollten die Kosten von Investitionen senken. Flankiert wurde dies durch das Ziel niedriger Inflation, was die Erträge der Investoren absichern sollte. Mit diesen Maßnahmen buhlten die Standorte um die Attraktion von Kapital und setzten ihre Wettbewerbsfähigkeit als oberstes Ziel.

Dem Staat war dabei die Rolle zugedacht, die Investitionsbedingungen zu garantieren, über sogenannte »Strukturreformen« zu verbessern und sich ansonsten zurückzuhalten, vor allem, was seine Verschuldung angeht. Denn der Markt, hieß es, könne es besser und effizienter. Die Investitionsrenditen würden auf wunderbare Weise nicht nur die Reichen reicher machen, sondern kämen auch per »Trickle-down-Effekt« bei den Armen an.

Bekannt wurde diese Erzählung als »Konsens von Washington«, weil sie maßgeblich von Internationalem Währungsfonds (IWF), Weltbank und US-Finanzministerium verbreitet wurde. Doch, so stellte der IWF jüngst fest, dieser Konsens ist aufgebrochen. Nach einer Analyse Tausender seiner eigenen Politikempfehlungen für alle Länder des Globus kommt der Fonds zu dem Schluss: Das »Wachstums-Narrativ Liberalisierung und Privatisierung« erlebte seinen Höhepunkt Ende der 90er Jahre und ist seitdem schrittweise im Rückzug. Staatliche Industriepolitik dagegen, die Ende der 80er aus den IWF-Empfehlungen verschwunden war, erlebe derzeit ein Comeback.

Eine der Ursachen für den Rückzug des Washington-Konsens dürfte sein Erfolg sein. So führte die Liberalisierung der Finanzmärkte zu einer gigantischen Aufblähung dieses Sektors, was allerdings periodische Finanzkrisen nach sich zog. Durch Kostensenkungen verbesserten sich tatsächlich die »Angebotsbedingungen« für Investoren, Renditen und Gewinne stiegen, die Löhne blieben zurück. Eine Nebenfolge dieser Umverteilung war allerdings eine wachsende Ungleichheit sowie »ein hartnäckiger Mangel an Nachfrage«, so die französische Bank Natixis. »Der Neoliberalismus schafft kein Wachstum mehr.«

Im Kampf gegen Krisen und schwaches Wachstum sprangen die Regierungen mit Mehrausgaben ein, was ihre Schulden bis 2019 immer weiter steigen ließ. Und auch sonst überließen sie das Wirtschaftsgeschehen nicht länger den Marktgesetzen. Der Finanzsektor wurde neu reguliert. Und im Kampf um Weltmarktanteile setzten insbesondere die USA nicht länger auf Freihandel. Stattdessen sollte der Erfolg der heimischen Unternehmen zunehmend mit Zöllen, Export-, und Investitionsbeschränkungen gesichert werden. »Auch der Trumpismus war kein reiner Neoliberalismus«, so Natixis.

Dazu kamen zwei weitere Entwicklungen, die den Reiz freier Märkte verblassen ließen: Corona und die »große Transformation«. Zum einen machte der Kampf gegen die Pandemie staatliche Unterstützung nötig, wie es sie vorher nie gegeben hatte. Vom Helfer wurde der Staat quasi zum Manager der Privatwirtschaft und hielt sie am Laufen. Folge: »Die Verschuldungsquote der G20-Industrieländer hat sogar das nach Ende des Zweiten Weltkriegs erreichte Niveau deutlich übertroffen«, so die Deutsche Bank. Dieses Niveau hätte »die Regierungen noch vor wenigen Jahren zu einer deutlich restriktiveren Fiskalpolitik veranlasst«.

Doch Sparsamkeit und Zurückhaltung sind nicht angesagt, im Gegenteil. Grund dafür ist die doppelte Transformation zu einer klimafreundlicheren und digitalen Ökonomie. »Die Industrie steht unter Druck«, erklärt das Institut DIW. »Die Digitalisierung verändert die Produktionsbedingungen grundlegend. Gleichzeitig ist sie verpflichtet, die Treibhausgasemissionen zu senken.«

Das bringt für die Unternehmen neue Kosten, aber auch neue Chancen. Die Regierungen haben es sich daher zur Aufgabe gemacht, mit Geld und Gesetzen den heimischen Unternehmen diese Geschäftssphären zu eröffnen, damit sie zu den Gewinnern der Transformation gehören. Dadurch erlebt »die Diskussion um die richtige Industriepolitik eine Renaissance«, so das DIW. Denn der Markt allein richtet es nicht.

Hatte die Linke während der Eurokrise vor zehn Jahren noch einen europäischen »Marshallplan« über 600 Milliarden Euro gefordert - was ignoriert wurde - so geht die EU heute weiter: Sie hat einen Europäischen Wiederaufbaufonds von 750 Milliarden aufgelegt. Gegen die Konkurrenz aus den USA und China schmiedet sie Industrieallianzen für Prozessoren, Halbleiter und Computer-Clouds, damit Europa im technologischen Wettlauf »an der Spitze steht«, so Frankreichs Finanzminister Thierry Breton. Ein Ziel der Politik ist dabei die Schaffung mächtiger Großkonzerne - »nationaler Champions« -, was ebenfalls dem neoliberalen Ideal freier Konkurrenz zuwiderläuft. Und auch im Autoland Deutschland »gibt es Bereiche wie die Produktion von Batteriezellen für Elektroautos, in denen es nicht ohne staatliche Unterstützung geht«, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel Ende Juni. »Wir werden in den nächsten Jahren gigantische Summen ausgeben müssen.«

Die Notwendigkeit, den Standort aufzurüsten, spiegelt sich in den Wahlprogrammen der deutschen Parteien: So will die CDU/CSU Deutschland bis 2045 zu einem klimaneutralen Industrieland machen und mit einer europäischen Industriestrategie Schlüsseltechnologien entwickeln. Die Grünen kündigen eine aktive Wirtschaftspolitik für eine »zukunftsfähige Industrie« an, inklusive Investitionszuschüssen für neue Technologien. Die SPD will die Wirtschaft mit einer langfristig angelegten Industriestrategie und staatlichen »Zukunftsinvestitionen« umbauen. Die Linke plädiert für einen staatlichen Transformationsfonds über 20 Milliarden Euro pro Jahr. Nur FDP und AfD setzen noch in alter Manier darauf, dass der Staat nur die Rahmenbedingungen für private Investitionen setzt und verbessert.

Das alles kostet Geld, die Schulden werden weiter wachsen. Damit dies finanziert werden kann, drücken die Zentralbanken die Zinsen, indem sie den weltweiten Markt für Schulden steuern. Zudem beschränken die Staaten voraussichtlich sogar ihren neoliberalen Steuersenkungswettlauf nach unten und führen eine globale Mindeststeuer für Unternehmen ein.

Liberale wie Deutsche-Bank-Ökonom Stefan Schneider warnen bereits vor einem »Weg in den Staatskapitalismus«. Und eine Gruppe prominenter Ökonomen mahnte jüngst öffentlich: »Der Weg in höhere Staatsschulden ist mit signifikanten Risiken verbunden.« Doch treffen sie damit nicht länger die Bedürfnislage der Unternehmen, die die staatliche Unterstützung brauchen. Es wäre »fatal, die Zukunftsinvestitionen an einer schwarzen Null scheitern zu lassen«, so der Industrieverband BDI.

Der alte Gegensatz »guter Markt, böser Staat« hat sich aufgelöst. Durchgesetzt hat sich aber nicht ein Primat der Politik gegenüber der Ökonomie. Sondern die Funktionalisierung der Politik für die Ökonomie unter neuen Bedingungen. Angesichts von Krisen, Digitalisierung und Klimawandel rettet der Staat Märkte, sichert sie und schafft neue zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, die neu definiert ist. Die heute gültige »Wachstums-Erzählung« ist nicht länger »Markt statt Staat«, sondern »Staat für den Markt«. Damit können - vorerst - auch Neoliberale leben, solange die Löhne nicht stärker steigen.