Geplatzte Lügen und Realitätsverweigerung

Joe Biden hat das Pech, dass unter ihm die Lügen von 20 Jahren Krieg in Afghanistan platzen. Aber er hat selber Anteil am Abzugdesaster

  • Moritz Wichmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Auch wenn laut Umfragen rund 70 Prozent der US-Amerikaner*innen für den Abzug der Truppen aus Afghanistan sind: Die Bilder aus Kabul sind ein Saigon-Moment für Joe Biden. Vielleicht wird er nicht wegen der schnellen Taliban-Machtübernahme eine eventuelle Wiederwahl 2024 verlieren, aber schon letzte Woche sanken seine Beliebtheitswerte unter die symbolische 50-Prozent-Marke, die Honey-Moon-Periode für den neuen US-Präsidenten ist vorbei.

Die Bilder von amerikanischen Hubschraubern, die hastig die letzten Mitarbeiter der US-Botschaft evakuieren – nicht ganz unähnlich denen aus den Schluss-Tagen des Vietnamkrieges – sind ein machtvolles Symbol und werden das zwar kriegsmüde, aber stolze Land schmerzen. Dass Biden noch vor Wochen beteuerte, Hubschrauber-Evakuationen wie in Saigon werde es nicht geben, wird auch persönlich an ihm hängen bleiben. Schließlich hatte er sich im Wahlkampf als erfahrener Außenpolitiker dargestellt, war jahrzehntelang Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des US-Senats.

Vor allem aber ist nun ganz offensichtlich die letzte Lüge des außenpolitischen Establishments in Washington geplatzt – auf der Weltbühne und live auf Social Media. Die Fassade von einem »Afghanistan unter Kontrolle« sollte aufrechterhalten werden bis zum letzten Augenblick. Doch nun ist klar: Der Abzug war offensichtlich schlecht geplant und umgesetzt.

Es war die letzte Lüge in einer langen Reihe: Man hatte jahrelang die Korruption der afghanischen Regierung heruntergespielt, die eigenen Maßnahmen zum Nation Building, wie etwa den Aufbau von Schulen, massiv übertrieben und der eigenen Nation vorgemacht, mit minimalem Investment die Sicherheitslage im Land kontrollieren zu können. Doch die Empörung der Republikaner, die die Bilder aus Kabul für Angriffe auf Biden nutzen, ist auch heuchlerisch, weil noch Trump und Ex-Außenminister Pompeo ebenfalls den Truppenabzug vorbereitet hatten.

»Geheimdienstkreise« ließen geplant durchsickern, die Machtübernahme der Taliban werde wohl etwas schneller kommen als gedacht, aber es werde »noch einige Monate dauern« – so jedenfalls der Spin gegenüber den Medien. Man hoffte offenbar, dass es so kommen würde, und eben auf »Ruhe«. Weil Außenpolitik im Alltagsleben vieler US-Amerikaner*innen keine Rolle spielt, will der um seine Wiederwahl besorgte Joe Biden, der weltpolitisch keinerlei Ambitionen erkennen lässt, sich eigentlich auf populäre Sozialpolitik und die Verabschiedung seiner Infrastruktur-Pakete konzentrieren. Diese Haltung ging bis zum Ignorieren der außenpolitischen Realität.

Die hat ihn nun eingeholt, denn die USA haben Verantwortung in der Welt, auch wenn sie immer weniger willens sind, diese wahrzunehmen. Die Bilder aus Kabul erinnern auch die Amerikaner*innen vor den Fernsehschirmen daran, auch wenn diese nicht Teil des Außenpolitik-Apparates in der Hauptstadt sind. Und natürlich zeigt das Zurücklassen und Im-Stich-Lassen der Helfer der Koalitionsstreitkräfte und der von diesen mit aufgebauten afghanischen Zivilgesellschaft den gnadenlos opportunistischen und menschenverachtenden Umgang mit den eigenen Verbündeten.

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