Sächsisches Gericht kippt Abschiebung nach Georgien

Erzwungene Ausreise einer neunköpfigen Familie aus Pirna war unrechtmäßig / Landespolitiker fordern großzügigeres Bleiberecht

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.

»Bringt unsere Nachbarn zurück«: Unter diesem Stichwort versuchen Menschen im sächsischen Pirna, eine unmenschliche Abschiebeentscheidung der Behörden umzukehren. Diese hatten am 10. Juni eine in der Stadt lebende neunköpfige Familie in ihr Herkunftsland Georgien abgeschoben, obwohl sie ihren Unterstützern zufolge »hervorragend integriert« ist. Nun muss deren Forderung umgehend umgesetzt werden. Das Oberverwaltungsgericht (OVG) des Freistaats in Bautzen entschied vergangene Woche, dass die Abschiebung rechtswidrig war. Der Familie sei die »Wiedereinreise (...) zu ermöglichen«, schrieb das Gericht in einer Mitteilung unter der Überschrift »Verpflichtung zur Rückholung einer georgischen Familie«.

Der Fall der Familie Imerlishvili hatte hohe Wellen geschlagen. Die Eltern kamen mit den beiden ältesten Kindern im Jahr 2013 in die Bundesrepublik. Ihre Asylanträge wurden im Oktober 2020 abgelehnt. Beide haben aber Arbeit und sind ehrenamtlich engagiert. Fünf weitere Kinder wurden in Sachsen geboren. Das Land, in das sie in einer nächtlichen Aktion abgeschoben wurden, kennen sie kaum. Man habe die Kinder »ihrer Heimat beraubt«, formulierte der SPD-Innenpolitiker Albrecht Pallas.

Auslöser dafür, dass sie nun zurückgeholt werden müssen, sind rechtliche Ansprüche zweier Kinder: einer elfjährigen Tochter, die zuletzt die fünfte Klasse eines Gymnasiums besuchte, und ihres zehnjährigen Bruders, der in die 4. Klasse einer Grundschule ging. Weil beide mindestens vier Jahre Schulbesuch hinter sich haben, dürfe »angenommen werden, dass sie gut integriert seien«, heißt es in der Mitteilung des Gerichts. Für diesen Personenkreis sehe Paragraf 25 des Aufenthaltsgesetzes die Möglichkeit der »Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis« vor. Bis im Hauptsacheverfahren darüber entschieden ist, müsse eine »verfahrensbezogene Duldung« erteilt werden. Eine solche stehe auch den Eltern sowie den weiteren Geschwistern »aufgrund des Bestehens einer familiären Lebensgemeinschaft« zu. Das Bautzener Gericht kippte damit eine anderslautende Entscheidung des Verwaltungsgerichts Pirna und fügte an, dass der jetzige Beschluss »unanfechtbar« sei.

In der Landespolitik stieß dieser auf überraschte Reaktionen. Jule Nagel, die asylpolitische Sprecherin der Linken im Landtag, sprach von einem »Paukenschlag« und einem Beschluss mit »großer Signalwirkung«. Endlich sei klargestellt, »dass Bleiberecht vor Abschiebung steht«. Pallas erklärte, das Gericht habe »klare Grenzen aufgezeigt«, die auch für das Handeln des von Roland Wöller (CDU) geführten Innenministeriums gelten.

»So nicht bestellt«?
Clara Bünger kritisiert Deutschlands inhumane Abschiebepraxis

Die von diesem verantwortete Abschiebepolitik hatte zuletzt immer mehr Anstoß erregt. Anlass boten besonders eklatante, von den Medien aufgegriffene Fälle wie der von Familie Imerlishvili oder einem in Meißen lebenden, dort verheirateten und berufstätigen pakistanischen Christen, der ebenfalls ausreisen soll. Nagel merkte aber an, beides seien keine Einzelfälle. Die Dimension der sächsischen Abschiebepraxis sei »erschreckend«. Auch der Sächsische Flüchtlingsrat betonte, derlei Fälle legten nur »offen, was in Sachsen im Argen liegt«, Sprecher Jörg Eichler fordert eine »180-Grad-Wende in der Praxis der sächsischen Behörden«, die weit stärker Ermessensspielräume bei der Legalisierung von Aufenthalten nutzen sollten.

Initiativen dazu kommen von der Linken, die kürzlich eine »Bleiberechtsoffensive« gestartet hatte. Gefordert werden unter anderem rechtlich bindende Vorgaben für kommunale Ausländerbehörden, wenn es darum geht, ein Bleiberecht zu ermöglichen. Zudem solle sich Sachsen auf Bundesebene für eine von Stichtagen unabhängige Bleiberechtsregelung einsetzen.

Auch in der Koalition wächst der Druck. Die SPD drängt auf ein Sofortprogramm zum Schutz gut integrierter Familien und humanere Härtefallverfahren. Sie legte dazu kürzlich ein Positionspapier vor. Sowohl SPD als auch Grüne, die seit 2019 mit der CDU regieren, fordern vom Innenministerium, den vereinbarten Leitfaden für »Rückführungen« vorzulegen. Charlotte Henke, Landessprecherin der Grünen Jugend, verlangt verbindliche Standards, insbesondere den Verzicht auf Abschiebungen vom Arbeitsplatz, aus der Schule und in der Nacht sowie von Familientrennungen. CDU und Innenministerium zeigen sich hartleibig. Das Thema belastet die Koalition. Franziska Schubert, Fraktionschefin der Grünen, sieht darin sogar die »Achillesferse« des Regierungsbündnisses.

In Pirna bereitet man sich unterdessen auf die Rückkehr der Imerlishvilis vor. Die müsse »noch in den Sommerferien geschehen«, erklärt der Unterstützerkreis, der sich an diesem Mittwoch zu einem Runden Tisch trifft. Kümmern müssen sie sich darum selbst. Die Landesdirektion Sachsen als oberste Ausländerbehörde im Freistaat erklärte am Montag auf Anfrage von »nd«, die Familie werde »ihre Wiedereinreise selbstständig organisieren und durchführen«. Die entstehenden Kosten, fügte Behördensprecher Holm Felber hinzu, »übernimmt der Freistaat Sachsen«.

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