Kampf um die alten Viertel

In Charlottesville im US-Bundesstaat Virginia soll neuer Wohnraum für arme und schwarze Menschen entstehen, was nicht allen gefällt

  • Anjana Shrivastava
  • Lesedauer: 8 Min.

Carmelita Wood kümmert sich auch um Kleinigkeiten. Die Aktivistin will den Besitzer des Parkplatzes in der Cherry Avenue in Charlottesville überzeugen, zweimal in der Woche einen Bauernmarkt veranstalten zu lassen. Wood ist Präsidentin des Nachbarschaftsvereins des Stadtteils Fifeville, und sie wird in der Verhandlung anbieten, dass zwei Mitglieder ihres Vereins immer beim Markt vor Ort sein werden. Für die 69-jährige Afroamerikanerin wäre ein solcher Markt ein erster kleiner Schritt für eine lebenswertere Nachbarschaft.

Denn Fifeville, unweit der von Thomas Jefferson gegründeten Universität von Virginia mit seiner klassizistischen Architektur, ist selbst eine »food desert«, ein Viertel ohne Lebensmittelläden. Die Bewohner Fifevilles haben fast alle sehr niedrige Einkommen und müssen einen Bus nehmen, um einen Supermarkt zu erreichen.

Nach fünf Jahren Planung ist der neue Bebauungsplan für die Cherry Avenue von der Stadtregierung akzeptiert worden. In Fifeville ziehen die Nachbarn an einem Strang, folgen Wood; aber unter den Mitgliedern anderer Nachbarschaftsvereine der 48 000 Einwohner-Stadt ist sie wenig beliebt. Denn die Afroamerikanerin ist bis jetzt die Einzige unter den Vertretern der Hausbesitzer dieser idyllischen Stadt mit den gepflegten Einfamilienhäusern, die den neuen Stadtentwicklungsplan der Bürgermeisterin Nikuhyah Walker unterstützt. Der erlaubt eine dichtere Besiedlung mit Häusern, in denen bis zu 12 Parteien wohnen können. Wood unterstützt das, obwohl sie selbst Besitzerin eines Einfamilienhauses ist und diese Struktur für Fifeville gerne so weit wie möglich erhalten will.

Landesweit gibt es Auseinandersetzungen um das sogenannte »Zoning« und die Frage, ob Stadtviertel oder Vororte eine dichtere Bebauung erlauben, um den Wohnraummangel zu bekämpfen. Viele eher wohlhabende Besitzer von Einfamilienhäusern, die von steigenden Immobilienpreisen profitiert haben und deren Häuser im Wert gestiegen sind, machen auf Nachbarschaftsversammlungen und bei Beteiligungsverfahren dagegen mobil. Aber das Besondere am Bebauungsplan in Charlottesville ist, dass er nicht nur für arme, noch überwiegend schwarze Gegenden wie Fifeville gelten soll, sondern in der ganzen Stadt.

Charlottesville will den neuen Süden repräsentieren – tolerant, vielfältig, modern – hadert nun aber mit der Umsetzung einer dichteren Bebauung. Thomas Jeffersons Charlottesville ist wie Goethes und Schillers Weimar eine Bühne für die Kulturkämpfe der Nation. In diesem Sommer wurden die imposanten Reiterstatuen der Südstaaten-Generäle Robert E. Lee und Stonewall Jackson mit Ketten und Seilen entfernt. Äußerlich verlief alles geregelt; die Statuen wurden nicht wie in anderen Städten von Demonstranten gekapert. Trotzdem bedurfte die Entfernung der Denkmäler eines politischen Tornados.

Jahrelang kritisierten Demokraten und Aktivisten die Statuen, dann kulminierte die Auseinandersetzung in der Gewalt der Rechtsextremen, der sogenannten »Alt Right«- und der »Unite the Right«-Demonstration im August 2017. Die antifaschistische Gegendemonstrantin Heather Heyer wurde damals von einem rechtsradikalen Autofahrer getötet, 19 andere wurden verletzt. Nach der Empörung über die Gewalt wählten die Bürger Charlottesville zum ersten Mal eine schwarze Frau als Bürgermeisterin: Nikuyah Walker.

Eine der ersten Maßnahmen der neuen Kommunalregierung war es, eine Kommission für den neuen Stadtentwicklungsplan einzusetzen. Besonders war dabei, dass zu Beginn der Arbeit nur arme und meistens schwarze Bürger zurate gezogen wurden, um ihre Interessen zu berücksichtigen. Charlottesvilles Bürgermeisteramt ist zwar ein weitgehend zeremonieller Posten. Aber eine gewisse Macht über die Verwaltung besaß die Wohnraumaktivistin Nikuyah Walker doch, und so machte sie bei ihren Plänen zur Verdichtung der Besiedlung erst einmal einen großen Bogen um all jene, die prädestiniert dafür sind, die berüchtigte »Nicht in meinem Hinterhof«-Haltung zu pflegen.


Verdrängung damals

Nach dem Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert war Charlottesville mit 54 Prozent mehrheitlich afroamerikanisch. Heute liegt der Prozentsatz innerhalb der Stadtgrenze bei 19 Prozent, Tendenz fallend. Jedes Jahr werden die schwarzen Menschen Charlottesvilles weniger. Der Grund ist weniger neuer Rassismus als der steigende Preis von Grund und Boden. Die rauen Kräfte des Marktes vertreiben die noch vorhandenen armen Schwarzen so effektiv aus ihren Häusern und Straßen wie die Ketten und Seile die Reiterbilder von Lee und Jackson.

Carmelita Wood hat nicht immer in Fifeville gelebt. Die Straßen ihrer Kindheit liegen auf dem Vinegar Hill, weiter in Richtung Innenstadt. Dort hatten ihre Eltern ein kleines Haus aus weißen Holzbrettern zusammengezimmert. In der Nachbarschaft waren Dutzende Geschäfte im Besitz von Afroamerikanern. Unter den Bedingungen der Segregation hatten sie vor Ort eine eigene Welt aufgebaut. »Alle haben alle gekannt. Es war wie eine Familie«, sagt Wood. »Wir Kinder haben in der Straße gespielt; wir hatten eine wunderbare Kindheit«. Neulich, als Wood in Fifeville Flyer verteilte, war sie plötzlich erschrocken: »Wo sind die Schwarzen? Wo sind wir? Das musste ich mich fragen.«

Ebenfalls erschrocken sind derzeit auch viele weiße Hausbesitzer – über die Pläne der Bürgermeisterin. Werden sie umgesetzt, dann wohnen bald vielleicht wieder arme Schwarze in ihren Vierteln. Bisher geht der Trend nämlich eher in die andere Richtung: Aktivistinnen wie Carmelita Wood oder ihre Freundin Vizena Howard im noch überwiegend schwarzen Viertel 10th & Page müssen Jahr für Jahr zuschauen, wie Fremde sich in ihrer Nachbarschaft einkaufen, aber sich selten die Mühe machen, sich an die Gepflogenheiten anzupassen. Immer seltener wird geplaudert zwischen Veranda und Straße, erklärt Howard. Wut macht sich im Viertel breit, wenn Häuser, die über Jahrzehnte gepflegt wurden, gekauft und plötzlich umgehend teuer weiterverkauft werden. Die ehemaligen schwarzen Besitzer staunen oft nicht schlecht, aber dann ist es zu spät.

Wood würde noch in ihrem Geburtsort Vinegar Hill leben, wenn nicht ihr altes Haus und das gesamte Viertel im Jahr 1965 durch eine Räumungsaktion zerstört worden wären. Mit überwältigender Mehrheit votierte der Stadtrat damals dafür, das Viertel zu räumen. Zu heruntergekommen und zu unhygienisch sei die Gegend, hieß es. Die Lokalzeitung »The Daily Progress« verkündete, dass neue Läden und Wohnhäuser in Vinegar Hill geplant seien, dass alles besser werden würde. 600 Menschen, darunter auch die Familie Wood, wurden in Sozialwohnungen untergebracht.

Zuerst reagierten einige ehemalige afroamerikanische Bewohner von Vinegar Hill erfreut, weil sie erstmals fließendes Wasser und Innentoiletten hatten. Von der Entscheidung zur Räumung wurden die meisten Schwarzen in der Stadt durch die hohe Kopfsteuer ausgeschlossen. Denn diese Kopfsteuer entschied, wer in der Gemeinde seine Stimme abgeben durfte und wer nicht.

In Fifeville gibt es heute nur noch ein schwarzes Restaurant, »Royalty Eats«, und einen schwarzen Friseur, den »Cherry Avenue Barber Shop«. Ein Hauch des alten Flairs von Vinegar Hill schwebt zu Schulbeginn über Fifeville, wenn der Friseur allen Kindern Haarschnitte gratis anbietet. Wood denkt an das alte Straßenbild, an die Zeiten, bevor die Bulldozer an ihren Geburtsort kamen. Nach deren Einsatz meinten die Nachbarn, es sähe aus wie nach einem Tornado. Jahrelang passierte auf dem Gelände im Gegensatz zu den Ankündigungen einfach nichts, bis in Starr Hill hauptsächlich Parkplätze entstanden. Wood selbst ging jahrelang nicht mehr dorthin. Irgendwann tat sie es doch, und was sie vorfand, war ein McDonalds-Restaurant.


Verdrängung heute

Nun gibt es einen neuen Bebauungsplan für Starr Hill, es soll ein Viertel werden, das an Vinegar Hill erinnern soll. Wood staunt über den Ehrgeiz der Geschäftsführerin der Non-Profit-Stiftung »New Hill Development«, Yolunda Harrell, die 500 000 Dollar von der Stadt bekommen hat, um die Pläne umzusetzen. Harrell will Flair, will die schwarze Mittelklasse nach Charlottesville locken. Ein Partner bei der Erneuerung ist die Local Initiatives Support Corporation, eine Stiftung, die Gelder von Firmen wie Coca Cola oder von Wall-Street-Geldgebern erhält.

Aber beim Thema Wohnungen für Arme sieht es weniger rosig aus: Nur 10 bis 46 Wohneinheiten sind für Menschen geplant, die nur 50 bis 80 Prozent des Durchschnittseinkommens von Charlottesville verdienen. Bürgermeisterin Walker will zwar, dass auch Geringverdiener im neuen Starr Hill wohnen können, hat aber wenig Einfluss auf die Stiftungsmittel, die nun nach Charlottesville fließen.

Für Mieter mit geringem Einkommen hat Walker deswegen ein Programm mit 300 000 Dollar gestiftet, mit maßgeblicher Hilfe der Charlottesville-Ortsgruppe der Democratic Socialists of America (DSA). Räumungen sollen verhindert werden, indem den betroffenen Mietern juristischer Rat gratis zur Verfügung steht. Charlottesville ist damit die erste Stadt im Süden der USA, die eine solche Dienstleistung anbietet.

Doch es gibt auch Kritik. Der emeritierte Professor für urbane Planung, William Harris, hält zwar viel von Nikuyah Walker. Aber der Afroamerikaner geht schonungslos mit den neuen Hoffnungen um. Harris spricht mit dem Akzent eines Südstaaten-Gentleman, aber er spricht nicht euphemistisch über die Verhältnisse in der Stadt. Die kennt er aus seiner Zeit als Professor an der Universität von Virginia. »Die neuen Wohnungen, die gebaut werden, werden kaum von Schwarzen bewohnt werden, und wenn, dann nicht lange«, sagt er apodiktisch. »Wo Grund und Boden teuer sind, werden arme Schwarze schlicht nicht wohnen. Kein Investor wird sie berücksichtigen.«

Doch die Aktivistin Wood hofft, dass der neue Bebauungsplan immerhin einen Supermarkt in die Cherry Avenue bringt. Howard freut sich, dass die Bürgermeisterin ihre Anrufe beantwortet, früher war das undenkbar. Wenn Wood in diesen Tagen mit dem Besitzer des Parkplatzes über den Bauernmarkt redet, fühlt es sich anders an, wenn man am Plan der Bürgermeisterin mitgearbeitet hat. Entwicklerin Harris hofft, dass Starr Hill das neue Aushängeschild der Stadt wird.

Und Ex-Professor Harris hätte gerne, dass die Universität endlich die armen schwarzen Schüler der Stadt stärker einschließt. Nachbarschaftsaktivistin Wood ist überzeugt, dass die anderen Nachbarschaftsvereine langsam Vernunft annehmen werden und eine dichtere Besiedlung akzeptieren. Sie hofft, dass sie bald auf den Versammlungen nicht mehr alleine kämpft.

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