nd-aktuell.de / 21.08.2021 / Kultur / Seite 39

Alkohol an die betrunkenen Sklavenkinder

Ein Fast-Kriminalstück aus dem Moskau der Neureichen

Dies ist die Beichte von Michail German. Den Namen Victor Martinowitsch benutzt er nur als beliebiges Pseudonym. Vor Jahren beendete er, aufstrebender Dozent an einer Moskauer Privatuniversität, von einem Tag auf den anderen die Beziehung zu einer Kellnerin, die er eigentlich innig liebte. Was steckt hinter seinem plötzlichen Verschwinden? In diesem Buch offenbart er sein Geheimnis. Martinowitsch erzählt in einem klugen Spiel mit der Fiktion von der skrupellosen Manipulation fragwürdiger Freunde und fragt nach dem Wesen der Macht, nach der menschlichen Tendenz zu Feigheit und Fügung.

Wieso ein Buch? Nun, erstens wollte ich dich ausfindig machen. Zweitens wäre es mir ganz lieb, wenn sie davon nichts mitbekämen. Mein Kalkül ist simpel: Ernst zu nehmende Menschen lesen keine Bücher. Das geschriebene Wort ist als Kommunikationsmittel überholt. Außer dreihundert zufälligen Lesern mit der Angewohnheit, die Stände mit dem verstaubten Altpapier zu durchstöbern, wird niemand meine Stimme hören.

Irgendwie muss ich durchdringen zu dir, meiner einzigen wahren Zuhörerin. Für alle anderen ist dieser Roman Fiction. Für dich ist er Doku-Theater. Ich glaube nicht, dass ich diesen dreihundert detailgeilen Fremden deinen Namen verraten will. Schon gar nicht im Zusammenhang mit den schweren Verbrechen, die noch kommen. Beim Verlassen des Labyrinths sollte der rote Faden wieder aufgewickelt werden, damit sich kein Minotauros mit Dienstausweis der Abteilung Tötungsdelikte an Ariadne heranmacht.

Deshalb will ich dich spaßeshalber »Olja« nennen. Dabei wissen wir ja beide, dass du unmöglich eine Olja sein kannst. Ausgerechnet Olja hieß ja das Objekt unserer Spötteleien, das Plüschpony von nebenan, das jeden Morgen in seinem flauschigen Anzug vor unserem Fenster seine Morgengymnastik absolvierte. Es begleitete mich mit seinen kranken Augen regelmäßig bis zur Haustür. Ich hatte dir versprochen, ich würde dich lieben wie Olja. Noch ein paar Wendungen, damit die Erinnerung wieder erwacht.

»Frohsine.«

»Marmorküchlein« - so habe ich dich genannt.

Das Denkmal für die ruhmreichen Klempner, das du mir nach dem Sieg über den Wasserhahn errichtet hast.

Wish you were here.

Versand schafft Leiden.

Die spanischen Galeonen auf dem Teich im Ostankino-Park. Das Quartier im Vierten des Fünferwürfels. Die Gastherme mit ihren rostigen Rohren bis in die Kessel der Hölle. Einen Millimeter am Ventil geschraubt, schon warst du bei Alighieri zu Gast. Wir krochen verbrüht aus dem Bad, aber wir lebten auch wie verbrüht.

Erinnerst du dich noch an den Fernsehturm vor dem Fenster, den du ausreißen, rösten und zum Abendessen servieren wolltest? Bis dann ein neuer nachgewachsen wäre, würde es ein paar Jahre dauern. Geschmacklich dürfte der Ostankino-Turm einem geschmurgelten Pilz am nächsten kommen. Bei den Moskauern heißen diese Pilze »Schirmchen«, in meiner Heimat haben sie einen anderen Namen: »Henne«. So ein Fladen auf einem langen Ostankino-Bein. Weißt du noch, wie wir uns einig waren, dass der Eiffelturm ungenießbar ist? Gerösteter Eiffelturm schmeckt nach Spinne. Weißt du noch? Weißt du das noch?

Aber ich darf nicht vergessen, dass dieses Buch sich als Roman ausgibt. Also habe ich mich als »Held« dieses »Romans« ordentlich vorzustellen. Ich bin Moskauer. Das heißt, ich bin vor sechzehn Jahren aus meiner kleinen Heimat, die aus Angst vor dem Hypnoseblick des polessischen Zauberers durchgedreht ist, nach Moskau gezogen. Ich weiß noch, wie ich die ersten Monate durch Moskau ging …

Es fühlte sich an, als wäre ich aus einer kompakten europäischen Hauptstadt, in der die Autofahrer für Fußgänger bremsen und die Menschen die Buchstaben des russischen Alphabets sorgfältig aussprechen, in eine platte, wüste, fluchende Zehn-Millionen-Steppe geraten. Das Provinzielle und Zweitklassige an Moskau verblüffte mich in allen Bereichen: in der Art, sich zu kleiden, in diesem besonderen Verständnis von Luxus, das im Rest der Welt augenblicklich als kitschig erkannt wird, in den vorgestrigen Markenartikeln, die hier als Ausweise der Erfolgreichen gelten. In diesem sich für originell haltenden Epigonentum, diesem besonderen Snobismus, wie er nur unter Sultansdienern anzutreffen ist. Darin, wie die Bedienungen keine Eile haben, Tische abzuräumen, für die die nächsten Gäste anstehen, sodass man sich hier manchmal setzen muss, damit sie die Überreste eines fremden Croissants endlich auf den Boden fegen. Mit Ingrimm. Und noch einmal: mit Ingrimm.

Pariž - pas riche. Moskwa, qua qua. Ich murmelte eine Paraphrase des Warhol-Satzes vor mich hin: dass jeder in seinem nichtswürdigen Leben seine fünfzehn Minuten Moskau wert sei. Wenn du deine fünfzehn Minuten bekommst, halt dich ran. Schließlich gibt es, wo viel Übel ist (und in Moskau ist viel Übel!), immer auch viel Gutes. Das Böse sticht in Moskau sofort ins Auge, erschreckt und stößt ab - bloß weg, nach Hause, zum Teufel! Das Gute erschließt sich dagegen nur dem Geduldigen. Es erschließt sich, wenn du dich auf das Moskau-Tempo eingestellt hast, auf die Boxerhaltung mit den erhobenen Fäusten vorm Gesicht. Wäre ja auch seltsam, wenn all diese unglaublichen menschlichen Millionen in einer Stadt lebten, die nichts Gutes zu bieten hat außer Geld, das dir diese Stadt schneller wieder wegfrisst, als du es aus ihr herausquetschen kannst.

Allmählich schleicht sich dann das andere Moskau in dich ein, ohne Prada, Mongolen, Pferdestärken und folkloristischen Firlefanz.

Mit diesem Sonderling in der Metro, der dich inmitten der menschlichen Schutthalde plötzlich anlächelt, noch dazu so aufmunternd, dass du den Tag überstehen kannst.

Moskau ist mehrdimensional. Wer es geschickt anstellt, kann sein gesamtes Leben in der Dimension verbringen, die ihm am angenehmsten ist. Und doch leben alle jahrein, jahraus ausgerechnet in der ungemütlichsten. Dabei, Olja, ist der größte Vorzug der Stadt diese besondere Spielart von Einsamkeit in einer Zehn-Millionen-Metropole, die dermaßen voll ist von komplett gleichgültigen Menschen, dass du auf der Straße das Gefühl haben kannst, du hättest aufgehört zu existieren. Hier allein zu sein, fühlt sich zehn Millionen mal so kalt an wie in jeder anderen Stadt der Erde. Weggehen kann ich ja nicht. Wer einen Krieg gewonnen hat, geht nicht weg.

Also (Trommelwirbel), ich heiße Michail Alexejewitsch German, und ich werde euch erzählen, was Macht ist. Nicht die kalorienarme Machtbrühe, mit der sie euch im Fernsehen vor der Wettervorhersage abspeisen. Nicht die Handvoll Zwerge mit den Schlitzohrgesichtern, die ständig irgendwen bekämpfen, etwas verbieten oder aber gegen Verbote protestieren. Diese öffentliche Unterhaltungsversion von Macht wurde nur erfunden, damit ihr nicht hinterfragt, wieso der Ort, in dem ihr lebt, wo ihr eure Steuern zahlt und euch den gesetzlichen Forderungen der Polizei unterwerft, sich »Staat« nennt. Nein, ich werde euch von der Macht erzählen, die euch längst in Fleisch und Blut übergegangen ist, die euch aus euren Reflexen heraus regiert. Von der Macht, die der Code hinter unserer Welt ist, die hinter jedem einzelnen Schritt steht, vom Krieg bis zu eurem Gang zum Geldautomaten.

… Bei unserer Bekanntschaft spielte ein Satz in Richtung der Bedienung des Cafés, in dem ich an meinem altersschwachen Laptop den Lehrplan tippte, eine Rolle. Die Bedienung hatte aufgelacht und auch danach noch sehr häufig gelacht, ich hatte mir dieses fröhliche Lachen gezähmt und in ihm bis zu zehn verschiedene Schattierungen entdeckt, von begeisterter Zustimmung bis hin zu rumpeliger Zärtlichkeit. Ja, Olja arbeitete als Bedienung in einem Café. Mehr will ich zu diesem Thema nicht sagen. Und ich will nichts mehr hören, das geht euch nichts an. Ja, ich habe in Architekturgeschichte promoviert. Und sie serviert Essen und nimmt Bestellungen auf.

Lieber erzähle ich euch etwas von den Kurilen. Sie hat in einem Laden in der Bolschaja Ordynka gearbeitet (jetzt nicht mehr, wo sie hin ist, weiß kein Mensch, versteht sich), im »Restaurant für russische und japanische Küche Kurilen«. Russische und japanische Küche waren auf der Speisekarte zu gleichen Teilen enthalten, aber der Wechsel von einer geografischen Phase zur anderen war eng an die Tageszeit gekoppelt. Tagsüber war hier eine manierliche, ruhige Sushi-Bar, Büroangestellte malten auf die Servietten Summen, auf die sie nach der Beförderung zum stellvertretenden Abteilungsleiter spekulierten, ertränkten zitternde Shrimps in schwarzer Soße, verschlangen California Rolls und nestelten an lauwarmen Feuchttüchern herum.

Abends spülte es diese Kundschaft in gesichtslose Clubs mit weißen Wänden, wo sie weiter Summen auf Servietten malten, diesmal aber jene, die sie dem Dealer für das Gramm Kokain bezahlen wollten, während in den Kurilen auf ihren Rappen die »Goldene Horde« aus allen Teilen der Stadt einfiel, überwiegend schwarz gekleidet, jede Menge Metallschmuck, unbelehrbar, gedrungen, hauteng, fahrig, kroch sie jetzt, im Zeitalter der Aufklärung, erst in den dunklen Stunden heraus und nur an die »eigenen«, fürs Besoffen-auf-dem-Tisch-Tanzen prädestinierten Orte.

Ungefähr von einundzwanzig Uhr bis früh um halb sieben waren die Kurilen in der Gewalt des russischen Gaunerchansons, Karaoke singender Mädels, saftiger Flüche und »hundertfuffzig und ’n Glas Saft«. Die komplette Tatarengeschichte dieses Stadtviertels lebte im Tabakrauch wieder auf: Da fraßen kahl geschorene Männer mit runden Gesichtern fettiges Fleisch, und es lief übers Gesicht, und es lief über den Schnauz, und es lief auf die Plauz und traf in den Mund und traf auf den Kiefer und wohl auch mit dem Fuß in die Nieren zuweilen. Häufig kam die Ambulanz, nie jedoch die Polizei, weil die Kurilen in der Macht der Russen waren, nicht dieser mittäglichen Japano-Manager, die schon bei einem Rechtschreibfehler im »Teriyaki« auf der Speisekarte die Polizei gerufen hätten. Gegen Morgen erleuchtete das nüchterne Licht des Landes der aufgehenden Sonne das Lokal, die Chansons liefen aus, die Tataren schliefen ein, Leiber wurden fortgetragen, Tische gewischt, Vasen mit Schilfschösslingen tauchten auf, und du gingst nach Hause, dich ausschlafen. Du arbeitetest dort jeden dritten Tag und warst bald Japanerin, bald Tatarin, und dein Haar war golden wie im Spinnennetz gefangenes Morgenlicht.

Manchmal warst du zu müde zum Einschlafen, dann erzähltest du mir, wie heute einer von ihnen plötzlich auf Französisch »Salut, c’est encore moi« gesungen hatte, aber so, dass die Leute feuchte Augen kriegten (besser noch: die Feudel Leuchteaugen) und dass er direkt danach voll über den Fernseher gekotzt hatte und umgekippt war, du wolltest ihn wieder aufwecken, weil er dir leidtat, aber dann haben sie ein Taxi gerufen und ihn mit ihren Taxifahrer-Antialko-NLP-Methoden wiederbelebt, um zu erfahren, dass er nirgends hinkonnte, dass ihm irgendwas passiert war, dass er in dieser Stadt überhaupt nirgends mehr hinkonnte.

Und ich erzählte dir, warum alle Lokale hier auf ihre Weise Kurilen sind (du nanntest sie Skurilen). Warum aus historischen Gründen jedes Restaurant hier zu Verka Serduchka, Fleischsalat, Umpa-umpa, Suff und Prügelei tendiert. Drüben, in Europa, ist das Café der Treffpunkt für die aufgeklärte Bourgeoisie, die Konzentration des weltlichen Lebens, in Russland dagegen ein Ort, an dem der Staat daran verdient, Alkohol an seine betrunkenen Sklavenkinder zu verticken. An dieser Stelle warst du natürlich schon am Einschlafen.

Viktor Martinowitsch
Revolution[1]
Aus dem Russischen von Thomas Weiler
Voland & Quist Verlag
400 S., geb., 24,00 €

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