nd-aktuell.de / 28.08.2021 / Kultur / Seite 19

Sich selbst fremd werden

Philosophie des Uneindeutigen: Zum Tod von Jean-Luc Nancy

Jakob Hayner

Der Mensch ist weder allein auf der Welt, noch schafft er sie oder sich allein. So weit nichts Neues. Doch das neuzeitliche Denken hat immer wieder das Gegenteil propagiert, allein aus dem Grund, dass die Einzelnen zu Vereinzelten gemacht werden, ihrer Mittel zum Leben beraubt und auf den Markt gescheucht, auf dem sie sich in Konkurrenz zu ihrem Mitmenschen zu behaupten haben. So sieht es im Kapitalismus für die übergroße Mehrzahl aus. Diese eigentümliche Ideologie, den Menschen gerade dann frei zu nennen, wenn er es nun wirklich nicht ist, zu widerlegen, das macht kritische Philosophie.

Jean-Luc Nancy stellte dafür den Begriff des »Mit-Seins« ins Zentrum seines Denkens. Abgelauscht hatte sich der 1940 in Bordeaux Geborene dies bei dem Schwarzwalddenker Martin Heidegger, dessen Nazitum er vor wenigen Jahren in einer Debatte über Heideggers Judenhass noch mit einer kuriosen Volte zu erklären gedachte. Im Jahr 1968 ging Nancy als Assistent an die Universität in Straßburg, später wurde er Professor dort, er blieb bis zu seiner Emeritierung im Elsass. Auch sein Denken zog es Richtung Deutschland: Er promovierte über Kant. Einflussreich waren auch Hegel und Adorno, wie Nancy in einem Gespräch mit Alain Badiou über deutsche Philosophie sagte.

Doch während Badious politische Philosophie den revolutionären Marxismus als Bezugspunkt hat, war Nancys Denken stärker an Phänomenologie und Dekonstruktion geschult. Jacques Derrida widmete Nancy gar ein Buch mit dem Titel »Berühren«, es sei wie eine Psychoanalyse seiner Texte gewesen, gestand Nancy später. Überhaupt hinterließ die Psychoanalyse, vor allem in der Lehre von Jacques Lacan, Spuren in seinem Werk. Die Frage, die Nancy umtrieb, war die nach einem geglückten Mitsein. Was ist die Gemeinschaft - die undarstellbare, die herausgeforderte, die verleugnete; um drei seiner Werke zu nennen - und wie kann sie gelingen? »Singulär plural sein«, lautet der Titel eines weiteren bekannten Buchs von ihm.

Dass Religion und Mythos in dieser Hinsicht ausgedient haben, war für Nancy unumgänglich, doch das Problem war für ihn damit keinesfalls gelöst. Denn der Kapitalismus bringt nicht nur Konkurrenz bis hin zu Mord und Totschlag, sondern zudem wenig appetitliche Scheingemeinschaften hervor. Als Maßstab eines Besseren führte Nancy die Kunst, die Liebe und das Denken an. So betrachtet liegt das deutlich politischere Denken von Badiou nicht mehr so fern, Berührungen gab es auch hinsichtlich der Aktualität der Metaphysik.

Noch etwas trieb Nancy um: Das Fremde in einem selbst. Das Eigene war ihm stets fragwürdig, Identität etwas, das es zu verunklaren und veruneindeutigen galt. Unabschließbarkeit, Offenheit, Bewegung, daran orientierte er sich wie an Sternen in der dunklen Nacht der noch nicht über sich selbst aufgeklärten Moderne. Das Fremde in einem selbst war für ihn zugleich unmittelbare Erfahrung. 1991 hatte er eine Herztransplantation, er schrieb darüber in seinem Essay »Der Eindringling: Das fremde Herz«. Sein Immunsystem musste er anschließend künstlich drosseln, es stieß das Organ ab. Doch lebte er drei Jahrzehnte damit. Zuletzt stritt er noch mit seinem alten Freund Giorgio Agamben über den Ausnahmezustand im Namen der Virenbekämpfung.

Auch hier gab es eine Verbindung zu dem Herzen: Damals war es Agamben gewesen, der sich von der Verpflanzung eines Herzens wenig überzeugt zeigte, gar davon abriet. Nancy wendete das nicht als Vorwurf gegen ihn, merkte es allerdings an. Mit Agamben stimmte er ansonsten insoweit überein, dass heute tatsächlich die Zivilisation auf den Spiel stehe, für ihn war der kapitalistische Fortschrittsglauben endgültig an ein Ende gelangt. Der Notstand sei längst die Regel geworden, die Regierungen selbst Getriebene und »grimmige Vollstrecker« einer Welt außer Kontrolle. Im Herbst erscheint noch sein Buch »Ein allzumenschliches Virus« in deutscher Übersetzung. Am 23. August ist Jean-Luc Nancy in Straßburg gestorben.