nd-aktuell.de / 01.09.2021 / Kultur / Seite 8

Silly Games

Spaß und Verantwortung: Olga Hohmann erinnert an sich an ihre Kleinstadtjugend

Olga Hohmann

Als Jugendliche lebte ich für ein paar Jahre in einer kleinen, aber sehr touristischen Stadt in der Mitte Deutschlands[1]. Wenn ich an diese Zeit denke, erinnere ich mich vor allem an lange Nachmittage des Nichtstuns, an eine Ödnis, die sich in scheinbar sinnlosen Intensitäten, in zielloser Leidenschaftlichkeit kanalisierte und immer zwischen Aggression und Albernheit angesiedelt war. Das jugendliche Nichtstun fand in verschiedenen Kulissen statt: In Winternächten häufig in den Vorräumen von Bankfilialen (den einzigen beheizten Orten, an denen man sich aufhalten konnte, ohne etwas zu konsumieren), in Supermärkten (Orten des Begehrens) und in der klassizistischen Kulisse der Innenstadt. Um uns die Zeit zu verkürzen, entwickelten wir Spiele, die sich auf die jeweiligen Kulissen bezogen.

Die erste Kulisse einer solchen Albernheit war ein kleiner Supermarkt gegenüber meines Gymnasiums. Schnell waren uns Ladendiebstähle als Adrenalinkick nicht mehr genug. Also fingen wir an, die Waren zu vertauschen. Heimlich, als wäre es etwas Illegales, schmuggelten wir eine Salami in die Bananenablage, eine Packung Toastbrot ins Spirituosenregal oder eine Dose Erbsen in das Kühlregal, in dem eigentlich das Ben-and-Jerry’s-Eis[2] zu Hause war. Stunden verbrachten wir mit dieser Tätigkeit, immer damit beschäftigt, nicht erwischt zu werden.

Für mich fühlte sich diese Handlung damals an, als stellte ich die Ordnung der Dinge subtil infrage. Und wenn ich mir die Bilder der sich selbst fremd gemachten Produkte jetzt wieder vor Augen rufe, scheint es mir mehr zu sein als das harmlose Spiel mit dem gefühlt Verbotenen, das mich damals an dieser Handlung faszinierte: Es war auch die Transformation der Ware in ein eigenständiges Ding. Durch die Technik der Neuplatzierung erschien sie nicht mehr nur in ihrer Funktion, sondern auch in ihrer Materialität, ihrer Farbe und Form - ein Readymade.

Durch die Verschiebung wurden die Objekte subjektiviert: Die Erbsendose wird als Eindringling zum Feind oder auch zum neuen Freund von Ben und Jerry, die Salami und die Banane erleben ihre erste Liebe und liegen in Löffelchenstellung[3] beieinander, das Toastbrot friert im Kühlschrank, weil es nicht, wie der Harzer Käse, »zäh genug« ist, man hört es in verschiedenen Tonlagen um Hilfe schreien, »wir wollen nicht sterben«. Ein Supermarkt im 21. Jahrhundert ist ein hochartifizieller Ort. Produkte, die sich gegenseitig fremd sind, werden wie selbstverständlich miteinander in Verbindung gebracht: Indem wir mit den Kund*innen und Verkäufer*innen »Finde den Fehler« spielten, enttarnte das auch die falsche Natur des Lebensraumes Supermarkt: »Finde den Fehler« hieß hier auch »Finde den Fehler im Fehler« - das Künstliche im ohnehin schon Künstlichen.

Die zweite Versuchsanordnung spielte sich an einem prominenten Platz ab: In der Mitte der kleinen Stadt steht nämlich ein berühmtes Denkmal zweier deutscher Dichter aus dem 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Um das Denkmal herum scharen sich von morgens bis abends Touristengruppen aus der ganzen Welt. Sie alle warten darauf, sich mit dem obligatorischen »Cheesy«-Lächeln vor den beiden Bronzemännern formieren zu können, um ihre Anwesenheit an dem berühmten Ort zu beweisen.

Das Spiel, das wir entwickelten, war sehr einfach: Wir stellten uns unauffällig in den Pulk der wartenden Tourist*innen und schlichen uns, wenn die jeweilige Gruppe an der Reihe war, heimlich in die letzte Reihe. Wir platzierten uns in der Masse, von den Umstehenden unentdeckt, aber auf dem Foto deutlich sichtbar. Wir schnitten keine Grimasse, sondern schauten einfach mit todernster Miene geradeaus. Der Streich fand weniger in der Gegenwart als in der Zukunft statt: Die Touristengruppe, zurückgereist auf die andere Seite des Landes oder Ozeans, entdeckt einen Fremdkörper in ihrer Mitte (der die schon bestehende Fremdheit der Konstellation »Reisegruppe« entlarvt).

Für mich ging es in diesem Spiel schon damals aber vor allem um Verweigerung. Auf fremden Urlaubsfotos zu erscheinen, kam mir wie ein kleiner Widerstand gegen die eigene Endlichkeit vor.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1134845.sagenhafte-und-andere-thueringer.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1066388.glyphosat-in-ben-and-jerryrs-eis.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/993577.unterkuschelt.html