nd-aktuell.de / 17.09.2021 / Kultur / Seite 12

Insulare Musik

Plattenbau. Die CDs der Woche: »The Seas Trees See« und »Away« von Dntel

Benjamin Moldenhauer

Vor zwanzig Jahren hätten diese beiden Alben geklungen wie die Musik der Zukunft. Jimmy Tamborello hat Anfang der Nullerjahre unter dem Namen Dntel wesentlich dazu beigetragen, Electronica und Indie-Ästhetik zusammenzubringen. Stubenhockermusik[1], zu der man – manchmal – tanzen konnte. Auf dem im Duo mit Death-Cab-for-Cutie-Sänger Ben Gibbard aufgenommen Song »This Is The Dream of Evan and Chan« und dem anschließenden Album »The Postal Service« schlug das Pendel dann einmal voll Richtung Pop aus. Für Songs wie »Such Great Heights« oder »The District Sleeps Alone Tonight« gab es Platin, alle haben diese Musik damals geliebt.

Rückblickend wirkt es, als sei Tamborello von dem enormen, kurzen Erfolg nicht überrascht gewesen, weil er ihn nicht sonderlich interessiert hat. Auch die zwei Alben, die Dntel in diesem Jahr veröffentlicht hat, wirken, als seien sie ohne Anbindung und Kontext entstanden: insulare Musik. »The Seas Trees See« versammelt elf Ambient-Tracks[2], aus denen immer wieder sanft irritierende Sounds und vor allem Stimmmodulationen aufsteigen und die schon deswegen nie gefällig wirken. Schön auch, wie Dntel in seine flächigen Tracks Melodien einspeist und sich nicht auf Drones verlässt. Wie überhaupt der Ambient wie auch die zumindest ansatzweise clubkompatiblen Sachen hier weitgehend ohne Bass auskommen (und deswegen eigentlich nicht clubkompatibel sind).

Das Album beginnt mit einem Cover des A-cappella-Folk-Songs »The Lilac and the Apple Tree« von Kate Wolf, im Original 1977 aufgenommen. Tamborello singt inzwischen, anders als auf seinen ersten Alben, selbst, setzt sich aber sozusagen als eigenen Gastsänger ein. Die Stimme, die den Wolf-Song singt, ist runtergepitcht, vorsichtig verzerrt und angeraut. Das zweite Album,das Tamborello 2021 veröffentlicht hat, treibt die Stimmmodulation noch einen entscheidenden Schritt weiter. Die Songs auf »Away« klingen, als seien sie von einer oder mehreren Gastsängerinnen eingesungen worden. Dass es Tamborello war, steht im Presseinfo. Hören kann man es nicht.

Das gender bending auf »Away« ist keine transgressiv gemeinte Geste, sondern eingebettet in zehn Stücke, die den Synthie-Pop der Achtzigerjahre[3] aufnehmen und ihn mit den Indietronics der Nullerjahre[4] mischen. Wäre »Away« vor zwanzig Jahren erschienen, im Anschluss von »The Postal Service«, wäre das Album wahrscheinlich durch die Decke gegangen. Heute erscheint es auf dem belgischen Mini-Label Les Albums Claus, das an einen Konzertraum angeschlossen ist, in dem ansonsten vor allem Free Jazz und Avantgarde stattfinden. Passt, weil die Musik von Dntel dann eben doch nicht alt klingt. Sondern wie die Musik von jemandem, der konsequent die eigene Soundästhetik weiterführt, völlig losgelöst von jedem externen Anspruch. Und trotzdem bleibt das alles immer Pop, auch in den abstrakteren Momenten.

Dntel: »The Seas Trees See« (les albums claus/Morr Music); Dntel: »Away« (les albums claus/Morr Music)

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/803329.verkuemmerte-menschen.html?sstr=Stubenhocker
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1149096.ist-es-eso-kitsch-oder-nicht.html?sstr=Ambient
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/985630.das-neue-alte.html?sstr=synthiepop
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/124465.plattenbau.html?sstr=indietronic