Eine lange Wahlnacht

Nach den ersten Prognosen war unklar, wer die Abgeordnetenhauwahl in Berlin gewinnen wird

  • Martin Kröger, Mischa Pfisterer und Rainer Rutz
  • Lesedauer: 4 Min.

Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) mahnte am Sonntag kurz nach Schließung der Wahllokale: »Wir sind gut beraten, in Demut die Ergebnisse abzuwarten.« Da waren gerade die ersten Prognosen zum Ausgang der Abgeordnetenhauswahl über den Bildschirm geschickt worden. Der zuvor sicher geglaubte Sieg der Sozialdemokraten mit ihrer Spitzenkandidatin Franziska Giffey hatte sich in dem Moment vorerst erledigt. Mit 21,5 Prozent in der ersten Prognose von Infratest Dimap um 18 Uhr blieb die SPD weit hinter ihren Erwartungen zurück, 2016 kam die Partei auf 21,6 Prozent. Giffey selbst gab sich noch nicht geschlagen. »Es ist noch gar nichts entschieden«, grummelte die Ex-Bundesfamilienministerin. Und überhaupt: Die Wahlkämpfer hätten es erreicht, dass »die SPD wieder so weit vorne ist«. In guten und in schlechten Tagen hätten die Anhänger zu ihr gestanden. Ziel sei, weiter gute sozialdemokratische Politik zu machen.

Abgeordnetenhauswahl in Berlin: Berlin wählt Mitte-links

So oder so: Als klarer Sieger standen plötzlich die Grünen da, die auf 23,5 Prozent prognostiziert wurden, ein Plus von über acht Prozent gegenüber der letzten Abgeordnetenhauswahl. »Die Berlinerinnen und Berliner sind veränderungsbereit«, sagte Spitzenkandidatin Bettina Jarasch. Gemeinsam hätten sie es geschafft, die Wahl in Berlin zur Klimawahl zu machen. Mit Blick auf das bisher regierende Mitte-links-Bündnis aus SPD, Linkspartei und Grünen stellte Jarasch zugleich umgehend klar: »Ich möchte diese Koalition unter grüner Führung fortsetzen.«

Folgt man dem Applaus für die Grünen bei der ersten Prognose, den es zeitgleich bei der Wahlparty der Linken im »Festsaal Kreuzberg« in Treptow gab, dann sehen die Sozialisten das ähnlich. Erleichterung war auch bei der Einblendung der eigenen Zahlen zu spüren. Mit 14,5 Prozent würde man zwar rund ein Prozent schlechter abschneiden als 2016. Zusammen mit SPD und den Grünen hätte das bisher regierende Mitte-links-Bündnis aber wohl weiterhin eine komfortable Mehrheit. »Insgesamt ist das doch eine solide Grundlage, wenn Rot-Rot-Grün tatsächlich so deutlich zulegt - und das nach all den Auseinandersetzungen in den vergangenen viereinhalb Jahren«, sagte Linke-Spitzenkandidat Klaus Lederer nach der ersten Prognose zu »nd«. Landeschefin Katina Schubert sagte mit Blick auf die ersten Zahlen, dass man daran sehe, »dass wir in den letzten Jahren echt was gerissen haben«.

Anders als bei den Parteien der bisherigen Koalition blickten CDU und AfD in die Röhre. Die CDU käme der ersten Prognose zufolge auf 15 Prozent, noch einmal 2,6 Prozent weniger als 2016. Der historische Tiefstand der Berliner Christdemokraten von damals wäre bei dieser Wahl mit dem Spitzenkandidaten Kai Wegner noch einmal unterboten. Wegner gab sich indes unverdrossen optimistisch. Man sei angetreten, »um diesen Senat abzulösen, und das bleibt weiter unser Ziel«, sagte der CDU-Landeschef. Immerhin räumte er ein, sich mehr erhofft zu haben. »Eins gehört dann auch zur Wahrheit. Der Wind drehte ganz schön«, so Wegner. Es habe eben auch der Rückenwind vom Bund gefehlt.

Richtig massiv in den Keller ging es für die AfD. Mit prognostizierten sieben Prozent hätte sich der Stimmenanteil der Rechtsaußenpartei im Vergleich zur Berlin-Wahl vor fünf Jahren mehr als halbiert. Nicht nur bei der Linken im »Festsaal Kreuzberg« brandete angesichts des Absturzes lauter Jubel auf. Auch Grünen-Landeschef Werner Graf freute sich über die Bruchlandung der Rechten. Das sei »ein Fest für die Demokratie«, sagte Graf im RBB. Allein: Im nächsten Abgeordnetenhaus wird die Partei um Landeschefin Kristin Bringer wohl ziemlich sicher trotzdem sitzen, wenn auch massiv geschrumpft.

Etwas Bewegung nach oben gab es der Prognose zufolge bei der FDP. Die Liberalen um Spitzenkandidat Sebastian Czaja kämen demnach auf 7,5 Prozent, gut ein Prozent mehr als 2016. Das Ergebnis der Landes-FDP läge damit zwar ordentlich unter dem Bundesschnitt. Czaja freute sich dessen ungeachtet über das zweitbeste Ergebnis in der Geschichte der Berliner FDP.

Die Prognosen beruhen auf Wählerbefragungen und sind üblicherweise noch unsicher. Erste Hochrechnungen wurden erst im Laufe des Abends erwartet. In der Hauptstadt war der Sonntag ein Superwahltag. Die Berlinerinnen und Berliner konnten neben dem Abgeordnetenhaus auch den neuen Bundestag und zwölf neue Bezirksparlamente wählen. Außerdem stimmten sie beim Volksentscheid Deutsche Wohnen & Co enteignen darüber ab, ob große Wohnungskonzerne vergesellschaft werden sollen.

Der Wahlkampf in der Hauptstadt war in den vergangenen Monaten geprägt von den Themen Mieten und Wohnen, Verkehr, Klimaschutz, Bildung und Corona. Wahlberechtigt waren 2,45 Millionen Menschen. Den ganzen Tag über gab es dabei große organisatorische Schwierigkeiten bei der Stimmabgabe in Berlin. Kurz vor der offiziellen Schließung der Wahllokale in Berlin standen vielerorts - wie bereits den gesamten Tag über - noch Wählerinnen und Wähler Schlange.

Auch kam es vereinzelt zu peinlichen Pannen, wie selbst der Bundeswahlleiter im Namen von Berlins Landeswahlleiterin Petra Michaelis am Sonntagnachmittag auf Twitter zugeben musste. Nach nd-Informationen wurden in einigen Lokalen im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg Stimmzettel aus Charlottenburg-Wilmersdorf ausgegeben. Im Marzahn-Hellersdorfer Ortsteil Kaulsdorf sollen zudem in mindestens einem Wahllokal zwischenzeitlich die Abstimmungszettel für den Volksentscheid Deutsche Wohnen & Co enteignen ausgegangen sein. Das Bezirkswahlamt bestätigte gegenüber »nd«, dass es zu Unregelmäßigkeiten gekommen ist.

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