Modernste Technik trifft auf Mittelalter

Computer erstellt aus Tausenden Drohnenfotos ein digitales Double des Kölner Doms

  • Michael Robert Lentz
  • Lesedauer: 7 Min.

Drohnenflieger Moritz Sinzel macht das unscheinbare schwarze Gerät startklar. Dann befestigt Joachim Perschbacher, Chef der Firma Northdocks, die Hightech-Kamera an dem vierbeinigen Fluggerät, bevor Sinzel ruhig und gelassen die Steuerung einschaltet und die Drohne in den herrlich blauen Sommerhimmel aufsteigen lässt. Hoch und höher steigt die Drohne an diesem Tag Mitte August an der Südfassade des Kölner Doms, bis das schwarze Gerät vor dem schwarzen Stein der Kathedrale mit bloßem Auge kaum noch auszumachen ist.

Kameraflüge statt Gerüst und Kletterer

Es ist der letzte Flugtag des seit Ende 2019 laufenden Projekts, dessen Kosten von rund 250 000 Euro aus Spenden des Zentralen-Dombau-Vereins getragen werden. »Man könnte sagen, wir schaffen einen digitalen Zwilling des Doms«, sagt Perschbacher mit einem gewissen Stolz, als könne er immer noch nicht so ganz glauben, dass Northdock das weltberühmte sakrale Wahrzeichen des »Hillije Kölle« - des heiligen Köln - mit digitaler Fotografie dreidimensional kartografieren darf. »Wir haben brutto 150 000 und netto gut 100 000 Aufnahmen«, erzählt Perschbacher, während er mit Kollegen sowie mit Michael Jürkel, Steintechniker der Dombauhütte, den Flug der Drohne aufmerksam verfolgt.

Um so komplexe Bauwerke wie den Kölner Dom auf Schäden zu untersuchen, müssen normalerweise aufwendige Gerüste aufgebaut werden. »Die können wir nur bis 70 Meter hoch bauen. Um den Dom in noch höheren Bereichen auf Schäden zu untersuchen und Schäden zu beheben, müssen wir Industriekletterer einsetzen«, sagt Jürkel. »Das ist ebenso langwierig wie teuer. Mit der Drohne bekommen wir auch Einsicht in Bereiche, die seit der Fertigstellung des Doms mit zwei je 157,18 Meter hohen Türmen im Jahr 1880 niemand mehr gesehen hat.«

Der Kontakt zu Northdocks aus dem rheinischen Monheim, bislang auf die digitale 3D-Kartografierung von Chemieanlagen spezialisiert, war eher zufällig zustande gekommen. »Ein Freund hat mir davon erzählt«, erinnert sich Jürkel. Erste Testaufnahmen Ende 2019 seien so überzeugend gewesen, dass das Projekt der digitalen Erfassung des Doms in Angriff genommen worden sei.

Northdocks, eine Ausgründung der Kieler Christian-Albrechts-Universität, die 2009 als Studio für die Animation wissenschaftlicher Videos startete, erklärt auf der Firmen-Webseite: »Virtual Reality ermöglicht eine maßgeschneiderte, detailgetreue Simulation realer Einsatz- und Betriebsbedingungen. Im virtuellen Raum können Routineabläufe und der Umgang mit Extremsituationen erlernt und geübt werden, ohne Equipment, Infrastruktur oder Mitarbeiter zu gefährden.«

Die hochauflösenden Aufnahmen der Drohnenkamera werden an einem Rechner zusammengesetzt. Das Ergebnis kann dann mit einer Virtual-Reality-Brille bis ins kleinste Detail in Augenschein genommen werden. »So können wir den Schadensbestand am Dom präzise dokumentieren. Wir sehen genau, wo wir aktiv werden müssen oder wo vielleicht erst in einigen Jahren Schäden auftreten könnten«, erklärt Jürkel.

Größere und kleinere Schäden sind an dem verwinkelten Bau mit seinen Fialen, Streben, Türmen reichlich vorhanden. Manche sind der Witterung und der schlechten Stadtluft zuzuschreiben, bei anderen der normale Verwitterungsprozess des Trachitsteins aus dem nahen Siebengebirge, bei wieder anderen könnte es sich noch um Kriegsschäden handeln.

Bei der Befliegung des Doms wurden einige erstaunliche Entdeckungen gemacht und Dinge gesehen, die seit seiner Fertigstellung vor 150 Jahren niemand mehr erblickt hat. Die kurioseste ist der Knick um 0,49 Grad am Übergang vom Chor zum Langhaus der Kathedrale. Was es damit auf sich hat, weiß niemand. Baupläne aus dem Mittelalter gibt es fast keine mehr. Ist er einem Fehler in der Berechnung der mittelalterlichen Baumeister geschuldet? Oder hat er eine religiöse Symbolik als Referenz an die zur Seite geneigte Kopfhaltung von Jesus am Kreuz, wie manche mutmaßen?

Die Befliegung des Doms mit Drohen ist »work in progress« und erfordert vom Piloten viel Fingerspitzengefühl. »Die Windverhältnisse am Dom und zwischen den Türmen und anderen Bauteilen sind sehr schwierig«, weiß Pilot Sinzel. Zudem ist die Drohne an diesem Augusttag nicht die von der Erstbefliegung 2019. »Das ist das dritte Drohnenmodell. Jedes Modell ist besser als das vorherige. Mit der Drohne von 2019 hätten wir niemals in das Strebewerk des Doms reinfliegen können.«

Vorteile des Touristenschwunds

Während Corona das normale Leben in Deutschland monatelang fast zum Stillstand brachte, Geschäfte und Gastronomie geschlossen waren, Hunderttausende Menschen in die Kurzarbeit geschickt wurden und viele Künstler ihre Lebensgrundlage verloren, waren die Lockdowns für die Dombefliegung ein Segen. »Der Tourismus war zum Erliegen gekommen und damit gab es am Dom keine Besuchermassen mehr. So mussten wir während der Befliegungen nicht mehr Teile der Domplatte aus Sicherheitsgründen absperren«, sagt Jürkel. Immerhin zieht der Dom zu normalen Zeiten täglich 30 000 Besucher an.

Peter Füssenich ist seit Anfang 2016 der Dombaumeister und damit zuständig für den Erhalt der Bausubstanz des Gotteshauses. Dombaumeister ist einer der Topjobs in Köln und mit Sicherheit dauerhafter, als in einer Karnevalsaison einmal Prinz, Bauer oder Jungfrau zu sein. Als Dombaumeister steht der Architekt und Denkmalpfleger in der Tradition von Meister Gerhard, der auf Geheiß von Erzbischof Konrad von Hochstaden 1248 mit dem Bau des Doms begann.

Meister Gerhard war zwar nicht der Begründer der Architektur der Gotik, er baute vielmehr nach den französischen Vorbildern, schuf aber mit dem Dom zu Köln das größte gotische Gotteshaus. Um das zu erreichen, musste Gerhard die Methoden seiner französischen Kollegen verfeinern, verbessern, modernisieren. »Mit der Erfindung des gotischen Baustils war man im Mittelalter in Dimensionen vorgestoßen, die man zuvor niemals gesehen und gewagt hat«, sagt der gebürtige Bonner Füssenich in seinem Büro gegenüber dem Dom am Roncalliplatz und fügt selbstbewusst hinzu: »In den Dombauhütten wurde immer modernste Technik eingesetzt. Wir machen uns die Instrumente dienlich, die uns nutzen.« Dem steht auch die in der Vergangenheit als durch und durch wissenschaftsfeindlich geltende Institution Kirche nicht im Wege. Ohne den Segen des Erzbischofs von Hochstaden hätte schon 1246 nicht mit dem Bau des gewaltigen gotischen Gotteshauses begonnen werden können.

Für Füssenich ist der Job als Dombaumeister keine frustrierende Sisyphusarbeit an einem Gebäude, das permanent repariert, ausgebessert, instand gehalten werden muss. »Die Dombauhütte hat zwei Aufgaben: den Erhalt des Doms für die nächste Generation und die Forschung. Der Forschungsanteil ist bei den Dombauhütten sehr groß.« Deshalb freut sich der 50-Jährige über die digitale Erfassung des Doms und spielt mit dem kleinen schwarzen Dommodell auf seinem Schreibtisch. »Das haben wir aufgrund der Drohnendaten mit einem 3D-Drucker ausgedruckt.«

Dombauhütten in anderen Städten und Ländern verfolgen mit Interesse das Kölner Drohnenprojekt. »Wir haben eine Kooperation mit den Dombauhütten in Xanten und Utrecht«, erzählt Füssenich und berichtet mit Bedauern, dass ein weitergehender Austausch mit anderen Kollegen wegen Corona bisher nicht möglich war. »Die jährliche Tagung der Europäischen Vereinigung der Dombaumeister, Münsterbaumeister und Hüttenmeister ist wegen der Pandemie zweimal ausgefallen.«

Auch wenn die aktuelle Drohnenvermessung des Doms - bis auf den eingerüsteten Teil von einem der Türme - abgeschlossen ist, wird die Dombauhütte immer wieder den Zustand des 160 Meter hohen Bauwerks mithilfe von Drohnen begutachten. »In welchen Abständen das passiert, müssen wir noch klären«, sagt Füssenich. Konkret sei jetzt zunächst die Befliegung des Innenraums der Kirche in Planung. »Dafür muss noch die Finanzierung geklärt werden«, fügt er hinzu.

Die Zunft der Dombaumeister ist seit dem Mittelalter - wenig überraschend - eine Männerdomäne. Es war daher eine Sensation, als Barbara Schock-Werner 1999 als erste Frau an die Spitze der Dombauhütte berufen wurde und den Posten bis zu ihrem Ruhestand 2012 innehatte. »Es gibt immer mehr Dombaumeisterinnen«, freut sich Füssenich.

Verdienten Kölnern wie populären Fußballern, Politikern, Künstlern, Karnevalisten, der Geißbock Hennes als Maskottchen des 1. FC Köln, Schriftstellern wie Heinrich Böll und natürlich den Dombaumeistern wird die Ehre zuteil, als steinerne Skulptur an der Domfassade verewigt zu werden. Füssenich, dessen Skulptur eines Tages dort sicher auch unter der Schar der Heiligen und Promis sein wird, sagt lächelnd: »Barbara Schock-Werner blickt seit 2017 vom südlichen Querhaus der Kathedrale auf den Roncalliplatz.«

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