nd-aktuell.de / 09.10.2021 / Gesund leben / Seite 16

Dating unter Chemo

Krebserkrankung, kräftezehrende Behandlung und nicht alltägliche Sexualpraktiken, wie geht das zusammen? Ein Erfahrungsbericht

Kirsten Achtelik

Willkommen im Klub: Etwa 69 700 Frauen erkranken in Deutschland jedes Jahr an Brustkrebs[1], damit ist es die häufigste Krebserkrankung bei Frauen. Meine Clubaufnahme erfolgte etwas abrupt im Mai 2021. Da war der Tumor schon größer als meine Brust vorher gewesen war, trotzdem hatte ich den Klotz bis zur Mammografie und anschließender Biopsie für harmlos gehalten. Mit der Krebsdiagnose schien das »normale« Leben dann erst mal vorbei: Der Schock will überwunden werden, viele Menschen müssen es erfahren, man muss sich über vieles informieren und Unterstützungsstrukturen aufbauen. Von einigen Seiten wird die Erwartung an einen herangetragen, alle Energie auf den Heilungsprozess zu richten: Die Betroffenen werden angeregt, sich mit gesunder Ernährung, Entspannungstechniken und Sport zu beschäftigen. Arbeit und Sexualität gelten als Beschäftigungen, von denen sich die Patient*innen wahrscheinlich erst mal verabschieden müssen.

Bei meinem ersten Gespräch mit der Ärztin, die die Chemotherapie begleiten und beaufsichtigen würde, habe ich mir notiert: »Libido geht wohl den Bach runter.« Das Thema hatte ich in dem Aufklärungsblock über die ausbleibende Menstruation während der Chemotherapie angesprochen, und ihre Antwort hat mich mehr beunruhigt als manch andere potenzielle Nebenwirkung.

Ich bin ein ziemlich sexueller Mensch, ich mag und brauche viel Körperkontakt, unterschiedlicher Art mit verschiedenen Menschen. Zudem stehe ich auf nicht so herkömmliche Praktiken, die wir – um nicht in unnötige Details abzugleiten – unter die Begriffe Kink und BDSM[2] (Bondage, Dominanz, Submission, Sadismus, Masochismus) fassen können. Schon zu Beginn der Corona-Pandemie hat mir Dating (mit den nötigen Vorsichtsmaßnahmen) über die schweren Phasen hinweggeholfen. Als andere Leute gelernt haben, Bananenbrot zu backen, habe ich über Dating-Apps Leute kennengelernt, neue Kinks ausprobiert und jede Menge körpereigene Drogen ausgeschüttet. Dass das wegen der Krebserkrankung und den Nebenwirkungen der Therapie nun nicht mehr möglich sein könnte, hat mir – abgesehen von der anfänglichen Angst darum, dass ich vielleicht bald sterben müsse – am meisten zugesetzt.

Anfang Juni wusste ich, dass es keine Metastasen gibt, der Krebs sich noch nicht in meinem Körper ausgebreitet hatte und eine gute Heilungschance bestand. Damit konnte ich den akuten Alarmzustand, in dem ich mich seit der Diagnose befand, langsam wieder abbauen und mich auf die anstehende Chemotherapie vorbereiten. Dabei zerstören Chemikalien den Tumor, indem sie Zellteilung und -wachstum behindern, sie sind allerdings nicht wählerisch. Chemotherapie ist anstrengend: Sie erzeugt potenziell viele und schwere Nebenwirkungen, da sie auch auf die gesunden Körperzellen wirkt, vor allem auf die, die sich oft teilen. Dazu gehören auch alle Schleimhäute, deswegen haben Chemopatient*innen Probleme mit dem Magen, der Verdauung oder der Haut. Alle für sexuelle Kontakte interessanten Körperöffnungen sind ebenfalls Schleimhäute. Klingt unsexy, und tränende Augen und eine ständig laufende Nase sind auch unangenehm. Aber da kommt die Feuchtigkeit halt her, »wet-ass pussy« gibt es nur, wenn die Produktion funktioniert. Diese kann aber – wie die Befindlichkeit allgemein – von Tag zu Tag im Chemozyklus recht unterschiedlich sein.

Menschen, die BDSM und Kink praktizieren, sind es gewöhnt, ihre Vorlieben, Abneigungen und Interessen wahrzunehmen und zu kommunizieren. Da es sehr viel mehr Optionen gibt als das übliche Skript von ein bisschen »Vorspiel« und dann Genitalien ineinander stecken, müssen die interessierten Personen halt darüber reden. Bei vielen Praktiken ist auch Sicherheit ein wichtiges Thema, sowohl wie viel Erfahrung die andere Person mit einer bestimmten Spielart hat als auch wie hoch die Risikofreude ist, denn Praktiken ganz ohne Risiken gibt es nicht. Hier wird bei jeder Begegnung explizit oder implizit die aktuelle Befindlichkeit in dem Spektrum zwischen »No risk no fun« und »Better save than sorry« (besser vorsichtig als später bedauern) ausgehandelt.
In Coronazeiten tun die meisten Menschen, die einer Risikogruppe angehören – und dazu gehören auch Chemopatient*innen – gut daran, vorsichtiger zu sein.

Das Immunsystem wird von der Chemo stark angegriffen, manche der Mitpatient*innen nutzen nicht mal mehr öffentliche Verkehrsmittel. Krebspatient*innen sollen sich schonen, auf sich achten, ein bisschen Sport treiben, Achtsamkeits- und Entspannungsübungen machen, gesund essen, sich vielleicht fragen, was diese Phase ihres Lebens ihnen »beibringen« kann. Keineswegs sollen sie ihrem Körper zu viel zumuten. Am Anfang war ich sehr verunsichert. Wenn ich mich mit der Harmlosigkeit des Klotzes in meiner Brust so geirrt hatte, wie konnte ich meiner Einschätzung in Bezug auf die Krankheit und ihre Folgen vertrauen? Was wäre zu viel, und zu viel wofür? Was würde mein Körper aushalten? Was würde ihn beziehungsweise mich schwächen? Gibt es kinky Praktiken, die den Heilungsprozess verlangsamen oder gar eine spätere Wiederkehr des Krebses begünstigen? Darüber spricht niemand, da ja schon über Sex niemand spricht. Und da nicht darüber gesprochen wird, ist es schwer zu sagen, ob ich die einzige Person bin, die solche Fragen hat, oder ob es eigentlich Gesprächsbedarf über Libido, ihren Verlust aber auch ihr Ausleben unter Chemobedingungen gäbe.

»Better save than sorry« klingt zwar sehr vernünftig, ist aber nicht monatelang durchzuhalten, vor allem nicht, wenn man seine Sozialkontakte und Aktivitäten bereits wegen der Pandemie schon seit anderthalb Jahren eingeschränkt hatte. Kuscheln mag ich zwar auch, aber eher nach den etwas schweißtreibenderen und riskanteren Aktivitäten. Die Vorfreude auf dem Weg zu einem Date, dieses Grinsen, das ich nicht mehr aus dem Gesicht bekomme, der Körper, der in der Erinnerung noch zuckt – darauf monatelang zu verzichten, wenn die Psyche durch die Pandemie, die Diagnose und die Therapie ohnehin schon so belastet ist, schien mir keine gute Idee. Chemo muss man durchhalten, wenn man sie abbrechen muss, weil man es nicht mehr aushält, steigt das Risiko, später erneut zu erkranken. Eine Kalkulation mit zu vielen Unbekannten.

Als erstes habe ich Epirubicin bekommen, das ist eine relativ krasse Chemikalie, deswegen wird sie auch nur vier Mal gegeben, alle zwei Wochen. Ich hatte viele der häufigen Nebenwirkungen nicht, war aber erschöpft und öfter war etwas entzündet. An vielen Tagen hing ich entkräftet und chemobrainig auf dem Sofa rum. Wenn ich versucht habe, mich zu konzentrieren, fühlte es sich nach einer halben Stunde an als würde mir die Energie aus dem Gehirn gesaugt, mir wurde schwindelig. Fit habe ich mich während dieser Phase maximal zwei bis drei Tage vor der nächsten Dosis gefühlt, dann kam allerdings auch die Libido mit Nachdruck zurück. Und das wurde dann stressig: während sich in etablierten Pärchenkonstellationen die nicht erkrankte Person möglicherweise freut, dass die Libido wieder da ist, muss beim casual Dating erst mal eine Person rangeschafft werden. Wie erwähnt man so eine Erkrankung und spricht über die damit verbundenen Unsicherheiten, ohne potenzielle Partner*innen zu verschrecken?

Ich hatte in dieser ersten unsicheren Phase großes Glück: Um die erste Chemo herum traf ich auf einer der einschlägigen Datingplattformen eine potenziell interessante Person. Ich suche dort nicht so sehr nach der großen Liebe oder neuen Freund*innen, sondern nach Leuten mit komplementären Kinks und ähnlicher Lust an verschiedenen Perversitäten. Dass die Person ein recht aussagekräftiges Profil hatte, erleichterte den Gesprächseinstieg und den Austausch über mögliche Praktiken und gemeinsame Interessen. Eine Bemerkung über Nippleplay war eine Steilvorlage für die Entgegnung, dass so eine Praktik bei Brustkrebs vielleicht kein guter Einstieg ins Kennenlernen wäre. Kurz daumengedrückt, dass da überhaupt eine Antwort kommt – die Plattform funktioniert nervenzerfetzend zeitverzögert – die Person zeigte sich erstaunlich gelassen und informiert, tatsächlich vertrauter mit dem medizinischen Fachvokabular als ich zu dem Zeitpunkt war. Schnell stellte sich heraus, dass die Person am anderen Ende eine medizinische Ausbildung genossen hatte und bereit war, neben Kinks und Körperflüssigkeiten, auch ihr Wissen und ihre Einschätzungen mit mir zu teilen. Die ganzen Fragen um ein schwächer werdendes Immunsystem, welche Praktiken meinen Körper zu sehr beanspruchen könnten oder ob ich mir zu viele Sorgen mache oder zu wenige oder die falschen, mit einer Person diskutieren zu können, die sich mit Medizin und Kink auskennt, war sehr hilfreich, um diese vage Beunruhigung loszuwerden.
Seit ich jede Woche Taxol bekomme, ist das Zeitfenster für Dates wieder größer geworden. Allerdings hat mein Körper nach vier Monaten Chemo auch nicht mehr viele Reserven. Hier ein neues Gleichgewicht zu finden mit dem anstehenden Herbst und der bevorstehenden Operation wird wohl die nächste Herausforderung werden.

Kirsten Achtelik ist Journalistin und Autorin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gender, Behinderung, Gesundheits-, Antidiskriminierungs- und Bevölkerungspolitik und Soziale Bewegungen. Sie lebt in Berlin und ist auf Twitter: @kir_ach[3]

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1142785.durch-die-brust-mitten-ins-herz.html?sstr=brustkrebs
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1156372.bdsm-wir-sind-keine-sadist-innen.html?sstr=bdsm
  3. https://twitter.com/kir_ach