Zerstörung und Erlösung

Alltag und Kunst gehen im Fall von »Ende Neu« in Berlin-Neukölln eine dynamische Beziehung ein

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 6 Min.

Das Gelände der früheren Kindl-Brauerei in Neukölln ist derzeit einer der »berlinischsten« Orte überhaupt. Die Maschinenhalle des früheren Brauereikomplexes ist fein hergerichtet, die Ziegelmauern glänzen in ihrer sandgestrahlten Schönheit. Ins Innere ist das Kindl-Zentrum für Zeitgenössische Kunst gezogen. Blickt man durch die großen Glasfenster auf das Areal ringsum, sieht man noch viel Wandel. Der Gussbeton von werdenden Häusern in der unmittelbaren Nachbarschaft wächst Woche für Woche nach oben. Daneben befinden sich Pflanzkübel eines Urban-Gardening-Projekts. Tische und Stühle eines Cafés sind mitten im üppigen Grün aufgebaut, und wenige Meter weiter stapeln sich wieder Baumaterialien und Abfall. Berlin ist im Werden hier, und fast möchte man glauben, die beiden Kurator*innen der Ausstellung »Ende Neu« im Kunstzentrum hätten passend zur Kunst auch das Umfeld arrangiert. Dem ist natürlich nicht so. Aber Alltag und Kunst gehen in diesem Fall eine dynamische Beziehung ein.

Insgesamt neun eher jüngere internationale Künstler*innen wurden von Magdalena Mai und Manuel Kirsch ausgewählt, um die Themen von Destruktion und Neuanfang zu bearbeiten. Erwartungsgemäß wohnt den Arbeiten, die auf Zerstörung setzen, größere Wucht inne. Geradezu gebannt bleibt man vor dem Monitor stehen, der Michael Sailstorfers Videoarbeit »Tränen« zeigt. Große blaue Tropfen, die tatsächlich wie Tränen aussehen, fallen da von oben auf ein Haus. Weint da ein Gott? Heult der Himmel? Die Frage bleibt unbeantwortet. Und die Tränen, die gerade noch für Melancholie, für das Sich-Bahn-Brechen von Traurigkeit standen, für eine eher sanfte, fließende Emotion also, entpuppen sich im Video als sehr harte Objekte. Gleich einer Abrissbirne schlagen sie ins Dach ein, durchlöchern die Schindeln, reißen auch die Wände ein. Am Ende bleibt von diesem Haus nur ein Trümmerfeld zurück. Es ist zerstört. Der Baugrund allerdings bietet Platz für Neues.

Ähnlich martialisch, nur auf Zimmergröße dimensioniert, geht Bastian Hoffmann vor. In einem Video zerhackt er erst das Mobiliar eines Arbeitszimmers, steckt es dann in einen Schredder, mixt die gehäckselten Bestandteile in einem gewöhnlichen Küchenmixer mit Wasser und schöpft aus der so entstehenden Pampe schließlich eine Art Papier. Ganz in der Manier eines Videotutorials erläutert er jeden seiner Schritte. »Today I want to show you …« (Heute möchte ich dir ... zeigen) nennt er die Serie seiner Verwandlungen dreidimensionaler Objekte in zweidimensionales Bild- und Textträgermaterial. Und man ist sich beim Ansehen nicht sicher, ob bei jeder Verwandlung von etwas Altem etwas besseres Neues entsteht. So gesehen gehört Hoffmanns Arbeit ins Revier von Innovationsskepsis und -kritik.

Löst er Empfindungen des Bewahrenden, des Konservativen aus, so setzt Katja Aufleger ganz auf die befreiende Kraft des Explosiven oder zumindest auf die befreiende Kraft des imaginierten Explosiven. Die Installation »Guilty« (Schuldig) besteht aus einem Arrangement von Parfümfläschchen, an deren Öffnungen freilich noch Textilfetzen angebracht sind. Auch Feuerzeuge liegen parat, laden regelrecht dazu ein, diese Miniatur-Molotow-Cocktails aus dem Luxussegment zum Entflammen zu bringen.

Dass Zerstörung nicht nur Befreiung innewohnt, sondern der Erwartung und Vorstellung auch Angst - das ist wohl auch die erste und ursprüngliche Assoziation -, ist Thema der Arbeit von Caterina Gobbi. An zwei Standorten sind jeweils drei metallisch glänzende Röhren miteinander verbunden. Senkrecht zur Decke ragend, wirken sie wie ausgekoppelte Orgelpfeifen. Aus ihnen dringen seltsame Töne, ein Klickern und Klackern, ein Knistern und Knacken. Es handelt sich um Töne, die die gebürtige Schweizerin am Gletscher des Mont Blanc in den Alpen aufgenommen hat. Es sind Töne, die das Eis von sich gibt, wenn es sich verflüssigt, sich auflöst, seit Längerem schon beschleunigt wegen der zunehmenden Erderwärmung. Gobbis Installation liefert den Sound der Klimakrise. Die Klänge wirken auf seltsame Art harmonisch, das Wissen über ihren Ursprung lässt Kälte den Rücken hochkriechen.

In vergleichsweise wenigen, aber klug ausgewählten Positionen schreitet die Ausstellung die wichtigsten Themenfelder ab, die mit Zerstörung verbunden sind. Die Angst vor Zerstörung, die lähmen kann, die aber auch auf Gefahren hinweist und sich zur Grundlage für konstruktives Handeln entwickeln kann. Die Freude an der Zerstörung, weil sie nicht gewollte und belastende Zustände einfach hinwegfegt und Raum schafft für Neues. Aber auch die Narben und Wunden, die zerstörerisches Tun produziert, werden sichtbar.

Geradezu schockartig wird dies in Nicola Samoris Malereien deutlich. Der italienische Künstler kreiert Porträts im Stile der Malerfürsten des Barocks. Aus diesen vollendeten Werken ätzt, schabt und kratzt er aber wieder Teile von Gesicht und Oberkörper heraus, jene Stellen also, in denen das Hirn, die wichtigsten Sinnesorgane und das Herz sitzen. Die Menschen sind entstellt, als habe ihnen eine Krankheit wie früher die Lepra das Gefühl für Teile des Körpers geraubt, die sich dann entzündeten und abstarben. Auch aus einer Büste aus weißem Marmor entfernt Samori das Gesicht. Der Schädel ist nur noch Hülle. Wird auch er neu gefüllt, mit neuem Leben, neuer Identität versehen?

Hier dringt die Ausstellung in Tabubereiche vor. Denn Integrität und Unversehrtheit des Individuums sind - obwohl immer wieder verletzt - Grundpfeiler zumindest der abendländischen Gesellschaft. Wie viel Erneuerung, Veränderung und Manipulation ist in diesem Zusammenhang denkbar, wünschbar und machbar?

»Ende Neu« ist keine Blockbuster-Ausstellung mit Künstlermarken, die von allein Aufmerksamkeit generieren. Es finden sich auch keine oberflächlich spektakulären Arbeiten darunter. Und die Anzahl von insgesamt 21 Werken ist keineswegs gewaltig. Die Schau ist aber klug konzipiert. Sie greift, zumindest für die, die sich Zeit lassen, ganz akute Problemfelder und Phänomene auf. »Ende Neu« lässt über Anfang und Ende, über die wilde Kraft und den Schrecken von Zerstörung nachdenken.

Dabei fällt auf, dass - wie so oft - der Perspektive eine entscheidende Rolle zukommt. Wer solidarisch mit dem Alten ist, ihm verhaftet und verbunden, sieht vor allem das Gefahrenmoment der Zerstörung. Wer mit dem Alten unzufrieden und unglücklich ist, sich davon beschwert, eingeengt und erdrückt fühlt, mag die Zerstörung als Befreiung und Erlösung geradezu herbeisehnen. Und ist, solange noch Tatkraft im Inneren schlummert, wohl auch bereit, den eigenen Anteil zur Destruktion beizutragen. »Ende Neu« ist ein überraschend präziser Denkraum, im ersten Stock der Maschinenhalle des Industriedenkmals über dem Berlin schwebend, das ringsum wächst und wird.

Bis 6. Februar 2022, Kindl-Zentrum für Zeitgenössische Kunst, Am Sudhaus 3, Berlin.

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