nd-aktuell.de / 19.10.2021 / Kultur / Seite 20

Ungelenke Tanzschritte, aber okay

Von der Ukraine nach Jena: Sasha Marianna Salzmann erzählt vier moderne Frauengeschichten in einem Buch

Norma Schneider

Nina fühlt sich wie eine »persönliche Dauer-Ent-Täuschungs-Maschine« für ihre Mutter. Denn die hat ganz genaue Vorstellungen, wie Ninas Leben aussehen soll: ordentlicher Job, Heirat, Kinder. Doch Nina hat auf das alles keine Lust. Ihrer Kindheitsfreundin Edita geht es ähnlich. Warum sie nach Berlin gezogen ist, statt sich um ihre Eltern zu kümmern, fragen die Verwandten mit missbilligendem Kopfschütteln auf dem Familienfest. Und als sie zu sagen wagt, dass sie Frauen liebt, erklärt der Vater, dass »das, was sie hat«, heilbar sei.

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Sasha Marianna Salzmann: Im Menschen muss alles herrlich sein.[1]
Suhrkamp, 384 S., geb., 24 €.

Sasha Marianna Salzmann erzählt in ihrem neuen Roman »Im Menschen muss alles herrlich sein« von einer tiefen Kluft zwischen den Generationen. Im Mittelpunkt der Geschichte, die für den Deutschen Buchpreis (Longlist) nominiert wurde, stehen vier Frauen: Lena und Tatjana wachsen in den 70er Jahren in der Ukraine auf. In den von Gewalt und Unsicherheit geprägten 90ern, nach dem Zerfall der Sowjetunion, emigrieren sie nach Deutschland. Ihre Töchter Nina und Edita verbringen ihre Kindheit schon in Jena und können mit den Vorstellungen der Mütter wenig anfangen.

Edita nennt ihre Eltern und deren Freund*innen, die ebenfalls aus der ehemaligen Sowjetunion emigriert sind, »die Nie-richtig-Angekommenen«. Sie hat keine Lust, sich mit diesen, wie sie sagt, »diktaturgeschädigten Jammerlappen« und »Perestroika-Zombies« auseinanderzusetzen, von denen einige, darunter ihr Vater, eine rechtsradikale Partei wählen. Edita wäre gerne ganz weit weg, in Florida zum Beispiel. Und Nina würde ihre Wohnung am liebsten gar nicht verlassen und den ganzen Tag am Computer spielen. Ein eher unfreiwilliges Wiedersehen mit den Müttern führt dann aber doch zu einer kleinen Annäherung: »Wir gaben uns Mühe, redeten ein bisschen, fragten die Koordinaten unserer Tage ab, ganz vorsichtige Worte, ungelenke Tanzschritte, aber insgesamt okay«, meint Nina.

Der Roman beginnt und endet in der Gegenwart, mit der Perspektive der Töchter. Den meisten Raum nimmt allerdings die Vergangenheit ein. Salzmann beschreibt das Leben der Mütter von den 70er Jahren bis heute sehr eindrücklich und als so fundamental verschieden vom Leben der Töchter, dass sofort verständlich wird, wie es zur Entfremdung zwischen den Generationen kommen konnte. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Mütter genauso wie die Töchter mit den Erwartungen der Eltern und der Gesellschaft zu kämpfen hatten, mit den sehr genauen Vorstellungen, wie das Leben einer Frau auszusehen hat.

Lena verbringt die Sommer ihrer frühen Kindheit bei ihrer Oma in Sotschi, deren Holzhaus in einem Garten voller Haselnussbäume steht. Später fährt sie jedes Jahr ins Pionierlager »Kleiner Adler«, wo sie ihre erste Liebe trifft: Aljona, die nach Sanddorn riecht und deren Haare kaum zu bändigen sind. Sie ist nur die Erste von vielen geliebten Menschen, die Lena im Laufe ihres Lebens verlieren wird. Als ihre Mutter krank wird, beschließt Lena, Medizin zu studieren, um sie zu retten. Denn die Ärztin im Ort verlangt immer mehr Geld und Geschenke und tut doch nichts, um die Mutter gesund zu machen. Auch während des Studiums und später bei der Arbeit im Krankenhaus sind Korruption und Bestechung in Lenas Leben omnipräsent. Als der Chefarzt ihr eine bessere Position verschafft, ist es ihr direkt unheimlich, dass er dafür keine Gegenleistung von ihr verlangt.

Lena ist von nun an für die Privatpatienten zuständig. Es sind die 90er Jahre, und sie behandelt hauptsächlich die Geschlechtskrankheiten der Neureichen. Zu ihr vorgelassen werden vor allem Männer, die stolz ihre aufgeschlagenen Fingerknöchel herzeigen, aber »die anderen, die Alten, die Vergessenen«, bekommt Lena nicht zu Gesicht, die »verrotten irgendwo«. Die Gewalt und Rücksichtslosigkeit und auch der wachsende Rassismus und Antisemitismus machen Lena zu schaffen - sie denkt, »dass Fleischwolf das einzige Wort war, das beschrieb, was hier geschah«.

Viele Patienten machen Lena den Hof; in einen von ihnen verliebt sie sich, in den Tschetschenen Edil. Sie erzählt niemandem davon, denn: »Sie verstanden ohnehin nicht. Sie verstanden nur, was sie schon wussten. Die Menschen hatten keine Kapazitäten für neue Informationen.« Ihre gemeinsame Tochter Edita wird später eine ähnliche Erfahrung machen, wenn sie sich als lesbisch outet und damit auf Unverständnis und Ablehnung stößt.

Als Edil von Lenas Schwangerschaft erfährt, verlässt er sie, und Lena heiratet ihre Partybekanntschaft David. Gemeinsam mit der kleinen Tochter, die er für sein eigenes Kind hält, emigrieren sie nach Deutschland, wo Lena keine angesehene Ärztin mehr ist, sondern bloß eine unter vielen anderen schlecht bezahlten Krankenschwestern.

An einer Stelle im Roman beschwert sich Nina darüber, dass die »ehemaligen Sowjetmenschen« eine homogene Erinnerung geschaffen, sich »auf eine gemeinsame Erzählung eingeschworen« haben, obwohl sie ganz verschiedene Leben gelebt hatten und es mitnichten nur »den einen Weg« gab.

Sasha Marianna Salzmanns Roman, der mit einer intensiven und bildreichen Sprache überzeugt, bietet eine andere Version der Erzählung, eine Perspektive jenseits von Klischees und dem schon hundertmal so Gelesenen. Es ist nicht nur eine weibliche Perspektive, sondern vor allem eine sehr individuelle. Auch wenn Nina und Edita ähnliche Erfahrungen gemacht haben und auch Lena und Tatjanas Leben Parallelen aufweisen, sind sie nie bloß Vertreterinnen einer Generation, sondern wunderbar starke Figuren mit ihrer jeweils ganz eigenen Geschichte. Salzmann versteht es, sie alle zu Heldinnen des Romans zu machen und so die Kluft zwischen den Müttern und den Töchtern immerhin etwas weniger tief erscheinen zu lassen.

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  1. https://www.nd-aktuell.de/shop/article/9783518430101