nd-aktuell.de / 19.10.2021 / Kultur / Seite 13

Per Perpetuum mobile in den Abgrund

Nachdenken über die Digitalisierung (2): Für die Medien sind die sozialen Netzwerke zu verlockend

Stephan Fischer

Dass Medien in sogenannten sozialen Netzwerken wie Facebook, Twitter, oder Instagram präsent sein müssen wird heutzutage fast genauso wenig infrage gestellt wie die Notwendigkeit einer Homepage für Publikationen, die ursprünglich nur im gedruckten Format erschienen. Wer nicht »im Internet ist«, existiert de facto nicht mehr in der Wahrnehmung - des Internets. Die Präsenz und Rolle »klassischer« Medien in und auf sozialen Netzwerken hat aber eine Reihe von Phänomen hervorgebracht, die man als problematisch bewerten mag oder auch nicht. Zumindest verdienen sie einen näheren Blick

Zeitungs- und Fernsehredaktionen erstellen Inhalte, die dann über verschiedene Kanäle verbreitet und beworben werden. Zu diesen Kanälen gehören die sozialen Medien; dort finden sich viele (potenzielle) Empfänger, die es zu erreichen gilt. Dafür haben sie sich Accounts eingerichtet. So weit die Theorie. In der Realität ist das alles viel weniger eindeutig und klar. Die börsennotierten Unternehmen hinter den sozialen Netzwerken stellen sich gerne als reine Plattformen dar und tun viel dafür, den Eindruck zu widerlegen, wie Verlage zu agieren oder die Inhalte auf ihren Plattformen (mitzu-)bestimmen. Sie müssen, um ihre reale Marktmacht zu erhalten oder auszubauen, den Eindruck vermeiden, politisch, kulturell und wirtschaftlich zu mächtig zu sein. Sie stellen sich und ihren Einfluss künstlich kleiner dar, als er ist, um nicht Gefahr zu laufen, als Monopole zerschlagen[1] zu werden. Aber natürlich ist es eine politische Entscheidung in allen möglichen Facetten mit weitreichendsten Folgen, ob ein Unternehmen jemandem wie Donald Trump per Account zunächst seinen politischen Aufstieg mit ermöglicht, ihm alle möglichen Ungeheuerlichkeiten auch im Amt durchgehen lässt, um dann später den Account zu sperren. Und hier kommen die reale Machtfülle und das Gefälle in den Blick.

Die beste Matrix ist jene, die sich natürlich anfühlt: Medien »füllen« soziale Netzwerke und ziehen einen Nutzen daraus, weil sie ihre tatsächlichen und potenziellen Nutzer erreichen. Auf einer höheren Ebene haben die Medien im Falle von Facebook oder Twitter einen Account auf einer börsennotierten und damit zuallererst profitorientierten - ganz gleich, was dort an blumigen Zielen formuliert wird - Plattform erstellt. Und sich damit den Nutzungsbedingungen, dem Hausrecht, dieser Unternehmen freiwillig unterstellt. Das ist kein Vertrag auf Augenhöhe, wie sie Medien für ihre Produktion oder Distribution sonst abschließen, zum Beispiel mit einer Druckerei oder einer Spedition. Im Grunde geben Medien damit im Moment des Postens jede Kontrolle aus der Hand: die Daten und vor allem die Verfügung darüber gehören nicht mehr ihnen - wie auch, beides gehört zum Kern des Geschäftsmodells der Plattformbetreiber selbst. Die wiederum alles bis hin zum Zugang selbst kontrollieren.

Kein Inhaber oder Betreiber eines Accounts, egal ob es sich um einen privaten oder geschäftlichen handelt, sollte vergessen, dass dieser im Besitz des Betreibers ist und bleibt - mit allen Konsequenzen. Im Zweifel kann er von einer Minute auf die andere gesperrt oder geschlossen werden. Natürlich kann man sich mit dem Gedanken beruhigen, ja selbst mit eigenen Postings nicht gegen die AGBs, Gesetze oder den guten Geschmack zu verstoßen, wie es bei Donald Trump der Fall war. Die vernünftigere Überlegung hierbei scheint aber, immer in Betracht zu ziehen, dass selbst der ehemalige US-Präsident gesperrt wurde, sobald es dem Unternehmen opportun erschien. Und kaum ein Medienhaus, national oder international, wird sich realistischerweise anmaßen, für so viel Interaktion auf einer Plattform zu sorgen wie Trump. Als Akteur in den sozialen Medien sollte man sich jederzeit bewusst sein, wer dort Spielfeld und -regeln bestimmt und wie groß der eigene Einfluss darauf ist, und zwar völlig unabhängig davon, ob man beides vielleicht sogar besser zu verstehen glaubt als die Plattformbetreiber. Ein harsches Bild mag dies verdeutlichen: In Kliniken gibt es oft Patienten, die mehr über ihren Fall und vielleicht sogar ihre Krankheit wissen als die Ärzte. Und trotzdem haben sie keinerlei Einfluss darauf, wer Arzt und wer Patient ist. Und wie lange sie in der Klinik bleiben dürfen oder müssen.

Aber man muss gar nicht vom schlimmstmöglichen Fall ausgehen, auch wenn das ein sehr nützliches Rezept für die Folgenabschätzung von Handlungen ist. Der Alltag medialen Auftretens in sozialen Netzwerken wirft genügend Fragen auf. Eine ergibt sich aus dem ersten Teil dieser Überlegungen (»nd« vom 13.10.)[2], wer da eigentlich wie mit wem kommuniziert. Die sozialen Netzwerke funktionieren originär als Plattform für Kommunikation zwischen Individuen, Personen.

Wenn Institutionen Accounts nutzen, sind sich jene, die sie betreuen und befüllen, dieser Charakteristik oftmals bewusst: Einfach eine Pressemitteilung in einen Tweet kopieren, und das war es dann - damit kommt man nicht weit. Nur in eine Richtung zu kommunizieren, nur zu sprechen, wird dem Charakter von sozialen Medien generell nicht gerecht, dazu gehört im übertragenen Sinne auch das Bewerten, Zuhören und Antworten. Dinge, die Personen außerhalb des Netzes selbstverständlich tun. Aber im Falle der Medien? Konkret: Wenn der Account @ndaktuell »Guten Morgen!« wünscht, sagt da auf einer Ebene tatsächlich die Zeitung ihren Followern »Guten Morgen«. Realiter kann aber eine Zeitung nicht sprechen, und es ist natürlich auch eine Person, die die Worte »Guten Morgen« im »Namen der Zeitung« getippt und dann gewittert hat. Im Namen der Zeitung, der Redaktion, aller Mitarbeiter? Oder doch nur der Person, die gerade über den Account verfügt? Im Falle von »Guten Morgen!« scheint das wenig problematisch, weil der Inhalt wenig kontrovers ist - und im Zweifel wahrscheinlich alle, die hinter @ndaktuell subsumiert werden können, dem Morgengruß zustimmen würden. Aber wie ist es bei politischen Positionierungen? Nicht ohne Grund steht bei jedem Kommentar ein Name darüber oder darunter.

Bei vielen Tweets, explizit nicht allein auf diese Zeitung bezogen, verschwimmt die Grenze jedoch: Viele Tweets sind selbst ein Kommentar - weil Positionierungen im sozialen Netzwerk die Resonanz in Form von Likes, Kommentaren oder Teilen erzeugen. Dieser Kommentar ist aber von einer Person verfasst, im Namen eines Mediums, was wiederum so wie eine einzelne, konkrete Person kommunizierend wirken soll - ohne dass der konkrete Kommentar einer konkreten Person zugeordnet werden kann. Wirkt das zu kompliziert und auch verwirrend? Eben. Es ist das Gegenteil von klarer, persönlicher Kommunikation, die aber suggeriert wird.

Ein drittes Problem ergibt sich dann, wenn Medien in ihrem Agieren in sozialen Netzwerken zu sehr den Regeln und auch den Themen der Netzwerke folgen. Schnelligkeit bei der Verbreitung einer Nachricht als Wert wird extrem hoch gewichtet. Kein Wunder, folgt doch die Aufmerksamkeit dem Prinzip »The winner takes it all«. Die erste Nachricht bekommt alle Aufmerksamkeit, auch die Klicks, höheres Ranking bei Suchmaschinen und dann durch sich selbst verstärkende Prozesse noch mehr Klicks.

Nun sind allerdings die originären Nachrichten, die nur ein Medium exklusiv allein hat, extrem selten im Vergleich zum Material, das allen Medien gleichermaßen zur Verfügung steht: Agenturmaterial zum Beispiel - oder Äußerungen in sozialen Netzwerken. Die Versuchung, beispielsweise aus Tweets allein einen Artikel zu machen, ist groß, auch weil es redaktionell und technisch so einfach ist. Und noch »besser«: Auf diesen Artikel, wenn man ihn geschickt in den sozialen Medien platziert, wird es wieder Reaktionen geben, die man wiederum in einen Artikel gießen kann, den man wiederum posten kann, auf den wiederum ...

Vielleicht fühlte sich dies für einige zunächst wie ein Perpetuum mobile an, de facto ist dies natürlich eine Abwärtsspirale. Der Blick auf Themen wird extrem verengt: Was online nicht stattfindet, existiert nicht. Die potenzielle Leserschaft wird immer kleiner und spezieller. Im Grunde wird die Zielgruppe immer besser angesprochen - das riesige Problem dabei ist, dass diese dabei aber immer kleiner wird. Für die sozialen Netzwerke selbst ist dieses Geschehen als Metastruktur überhaupt kein Problem[3]. Für ein Medium, das in dieser Matrix agiert, allerdings schon. Denn es will seine Kundschaft, vor allem numerisch, aber vielleicht auch darüber hinaus, erweitern und diversifizieren. Die in den Netzwerken wirksamen Mechanismen, denen die Medien dort selbst oft zu gerne folgen, haben mittel- und langfristig allerdings wohl den gegenteiligen Effekt zur Folge.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1157656.techkonzerne-die-gewinner-bekommen-alles.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1157540.digitalisierung-und-soziale-medien-ein-weltweites-sozialexperiment.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1157309.weltweiter-ausfall-es-braucht-den-great-reset.html