nd-aktuell.de / 28.10.2021 / Kultur / Seite 12

Scrollen, bis der Arzt kommt

Ernsthaft und heiter nimmt sich die Filmkomödie »Online für Anfänger« des Internets an

Felix Bartels

Menschen sind ein seltsames Volk. Wann immer was neu ist unter der Sonne, schreit die eine Hälfte von ihnen »Untergang« und die andere »Erlösung«. Die Erfindung des Internets hat da keine Ausnahme dargestellt. Dass sie aber einen jener seltenen großen Sprünge markiert, die die Kulturgeschichte über alle Einrichtungen hinweg gründlich verändert haben, einen Sprung vergleichbar dem der Schrift oder der Elektrizität, ist mittlerweile ein solcher Gemeinplatz und in jedermanns Hirn angekommen, dass sich das Thema wohl bloß noch in Form der Komödie behandeln [1]lässt. Eben das unternimmt der französische Film »Effacer l’historique«, heiter und ernsthaft zugleich, auch wenn sein deutscher Verleihtitel »Online für Anfänger« (anstelle des adäquaten »Verlauf löschen«) eher nach ordinärer denn hintergründiger Komik klingt.

Ein Zweieinhalbpersonenstück: Marie und Bertrand sind die, um die es geht. Ihre Freundin Christine dient vor allem als Reflexionsfläche, sie tritt in den Hintergrund, noch ehe sie richtig ins Spiel kommen konnte. Der Rest der Personage ist Anlass, Motivationsgrund oder Staffage. Die drei sind befreundet, seit sie sich bei den Gelbwesten kennengelernt haben. Da Marie getrennt von Ehemann und Sohn lebt und im Leben nie gearbeitet hat, verkauft sie die Möbel ihres leer stehenden Hauses, um die Ausgaben zu decken. Nach einem One-Night-Stand wird sie erpresst. Der Aufreißer droht, das Video zu veröffentlichen, was Marie aus Scham vor ihrem Sohn, um dessen schwindende Achtung sie kämpft, verhindern will. Bertrand kämpft seinerseits gegen Facebook[2]. Er muss die Löschung eines Videos erwirken, auf dem seine Tochter von ihren Mitschülerinnen gedemütigt wird. Unterdessen verliebt er sich - mit boshafter und leider vorhersehbarer Pointe - in die Stimme einer Callcenter-Angestellten[3].

Christine arbeitet als Uber-Fahrerin und hat mit der Macht willkürlicher Online-Bewertungen zu kämpfen. Ihre Fabel, die, wie gesagt, eher im Hintergrund mitläuft, kommt dem Thema des Films, der Klammer aller drei Handlungslinien, am nächsten: Es geht um Macht, also Machtlosigkeit, und damit um Ermächtigung. Das Internet ist ein kulturelles Phänomen. Weder ökonomisch noch politisch hat es an der bürgerlichen Gesellschaft grundlegend etwas verändert. Gleichwohl wuchs mit dem World Wide Web - in dem man lange Zeit einen höheren Grad der Freiheit zu erblicken meinte - die Macht der Gesellschaft über den Einzelnen. Die Bereiche tatsächlicher Privatsphäre schrumpfen. Datenschützer und Bürgerrechtler litten lange an der seltsamen Vorstellung, digitale Durchleuchtung sei eine Gefahr, die vor allem sinistren Machthabern und staatlichen Institutionen Material liefern könnte.

Und während von dieser Seite kaum etwas passiert, weil alle hellwach sind, was das betrifft, gestattet man den Unternehmen in der Arbeitswelt nahezu umfassende Kontrolle der im Überfluss vorhandenen und somit jederzeit ersetzbaren Arbeitskräfte. Der Angestellte von heute darf sich keinen Moment der Unfreundlichkeit mehr erlauben, weil er stets befürchten muss, eine schlechte Bewertung zu erhalten oder per Handycam auf YouTube zu landen. Lieferboten müssen sich tracken lassen. Bewerber ihre Krankengeschichte offenlegen. Angestellte müssen darauf achtgeben, dass sie in ihrer Freizeit nichts in den sozialen Netzwerken tun, was negativ auf das Unternehmen zurückfallen könnte. Kapital darf das, was sonst keiner darf: stalken.

Man kann nicht sagen, dass »Online für Anfänger« diese Zusammenhänge übermäßig scharf herausarbeitet, aber in der enormen Fülle an Pointen und Details werden sie gut illustriert. Dadurch, dass dieser Film sein Thema, die Macht des Internets, ernst nimmt, kann er gar nicht anders als das darunter liegende Thema, den totalitären Charakter der freiheitlich-bürgerlichen Gesellschaft, mit zu verhandeln. Er bleibt an der Oberfläche, aber er ist nicht oberflächlich.

Die kulturellen Anspielungen haben das an sich, weil sie es in sich haben. Etwa wenn Bertrand den Click auf den Datenschutzbutton mit den Worten »Ich habe sowieso kein Privatleben« kommentiert. Oder wenn Marie ihren Kühlschrank öffnet, in dem sich kaum etwas zu essen befindet, dafür aber alles voll mit Zetteln hängt, auf dem die unzähligen Passwörter vermerkt sind, die der zur Digitalisierung verdammte Mensch benötigt. Oder wenn ein Hacker, der, einem modernen Don Quijote gleich, nicht mit Windmühlen kämpft, sondern sich in einer versteckt, die Cloud als Hölle beschreibt. Oder wenn das If-you-can-do-this-you-can-do-this-Meme in einer Traumsequenz gewitzt auf den Kopf gestellt wird. Oder wenn jemand das Handy eine elektronische Fußfessel nennt. Oder ein kurzer Dialog beiläufig den Groupon-Schwachsinn entlarvt, indem jemand berichtet, dass er 30 Kilometer mit dem Auto gefahren sei, um 10 Cent zu sparen.

Oder wenn Christine von ihrer Seriensucht erzählt: Wie sie früher hier und da mal eine Folge geschaut habe, während sie heute dem »Binge Watching« verfallen sei. Dann entsteht etwa im Kopfe des mitdenkenden Zuschauers ein Zusammenhang zwischen dem suchthaften Konsumieren von Serien und den Möglichkeiten des Streamings. Die scheinbare Freiheit, Serien nicht mehr dann schauen zu müssen, wenn der TV-Sender sie gerade ausstrahlt, sondern selbst festlegen zu können, wann man sie schaut, die damit gegebene Möglichkeit, viele Folgen hintereinander weggucken zu können, hat nicht nur die Sehgewohnheiten geändert, sie hat sich auf das Genre ausgewirkt. Der befremdliche Wechsel der Serienkultur vom episodischen zum serialen Erzählen lässt sich als Reaktion auf das Distributionsmittel Internet verstehen.

Dass diese Überfülle an Gehalt einen nicht ermüdet, liegt sicher an der leichten, im Grunde allzu leichten Darbietung. Reichlich französisch plätschert das Geschehen vor sich hin: kein richtiger Anfang, kein richtiges Ende, alles irgendwie Mitte. Nur Mitte ohne Anfang und Ende kann keine sein. Da passt es dann auch, dass alle paar Meter französische Prominenz durchs Bild spaziert - Bouli Lanners, Jean Dujardin und Michel Houellebecq -, und keiner weiß, warum eigentlich.

Eine geradezu dänische Zurückhaltung bei der Inszenierung (kaum Musik, meist Handkamera, erkennbar preiswertes Szenenbild) macht das Gesehene auch nicht spannender. Die genial-bedeutsame Schlusseinstellung hebt alles noch einmal nach oben, dennoch scheint der Film sich in seiner zweiten Hälfte selbst aus dem Auge verloren zu haben. Motive und Anspielungen werden nicht organisch, sie reihen sich bloß aneinander.

Vielleicht aber war genau das die Absicht. Der Film wirkt wie eine Timeline bei Facebook oder eine Newsseite bei Google oder die Kachelansicht von Netflix. Wir gucken es, wie wir das Internet konsumieren, ohne Ende, ohne Anfang. Scrollen, bis der Arzt kommt. Wodurch dieser Film gewissermaßen selbst verkörpert, worauf er hinauswill.

»Online für Anfänger«: Frankreich 2020. Regie: Benoît Delépine, Gustave Kerver. Buch: Benoît Delépine, Gustave Kerver. Mit: Blanche Gardin, Denis Podalydès, Corinne Masiero. 112 Min.

Start: 28. Oktober.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1157836.belarus-lukaschenko-geht-gegen-telegram-vor.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1157875.truth-social-nichts-als-die-wahrheit.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1157184.armut-in-der-hauptstadt-eine-halbe-million-armutsbedrohte.html