nd-aktuell.de / 30.10.2021 / Politik / Seite 4

Wo Häuser im Meer versinken

Die Klimaerwärmung gefährdet die Lebensgrundlagen vieler Pazifikinseln

Barbara Barkhausen

Knapp 60 000 Bürger zählen die Marshallinseln, die auf halbem Wege zwischen Australien und Hawaii im Nordpazifik liegen. Sie bestehen aus zwei fast parallel verlaufenden Insel- und Atollketten, die es auf eine Landfläche von 181 Quadratkilometer bringen. Die 1225 größeren und kleineren Inseln erstrecken sich über ein Meeresgebiet von knapp zwei Millionen Quadratkilometern. Der aktuell vielleicht wichtigste geografische Fakt ist aber etwas anderes: Die Landfläche ragt im Durchschnitt nur rund zwei Meter über den Meeresspiegel. Und das wird im Zuge des Klimawandels zum existenziellen Problem. Aufgrund der Erwärmung der Meere und des Schmelzens polaren Eiskappen könnte der Meeresspiegel bis zum Ende dieses Jahrhunderts um mehr als zwei Meter steigen.

Noch aber hofft man, das Schlimmste verhindern zu können. Die Marshallinseln entsenden gleich fünf Delegierte zur UN-Klimakonferenz ins schottische Glasgow. Dort gehe es vor allem darum, die »Klimaambitionen« deutlich zu steigern, wie es Clarence Samuel vom Direktorat für Klimawandel auf den Marshallinseln dem neuseeländischen Radiosender RNZ erklärte.

Schon länger ist bekannt, dass die Inselnation eine der am stärksten gefährdeten Länder der Erde ist. Eine Studie der US Geological Survey kam im Jahr 2018 zu dem Schluss, dass viele tief liegende Atolle bis Mitte dieses Jahrhunderts unbewohnbar sein könnten. Nun warnt die Weltbank, dass bereits die nahe Zukunft der Nation düster aussieht. Ein in zweijähriger Forschungsarbeit entstandener Bericht mit dem Titel »Mapping the Marshall Islands« prognostiziert ein wahres Untergangsszenario. So rechnen die Forscher damit, dass der Meeresspiegel schon bald so weit ansteigen könnte, dass zahlreiche Gebäude in der Hauptstadt Majuro dauerhaft überflutet und ganze Inseln verschwinden werden.

Die Marshallinseln könnten wichtige Teile ihres Landes und ihrer Infrastruktur verlieren, sagte Artessa Saldivar-Sali, Expertin für Katastrophenrisikomanagement der Weltbank und Leiterin der Arbeit an dem Bericht, dem »Guardian«. Bereits bei einem Anstieg des Meeresspiegels um einen Meter würden etwa 40 Prozent der Gebäude in Majuro dauerhaft überschwemmt. Fast alle der rund 20 000 Einwohner wären zudem häufig von Überflutungen betroffen.

Die Modellierung, die dem Bericht zugrunde liegt, berücksichtigt verschiedene Szenarien für den Anstieg des Meeresspiegels und stellt die Auswirkungen dar. Ein Visualisierungstool zeigt eine Gebäude-für-Gebäude-Aufschlüsselung. Laut Saldivar-Sali ist die Modellierung so spezifisch, dass sie zeigt, wo Küstenerosion Häuser ins Meer stürzen lassen, wo es zu erheblichem Landverlust kommen und wo Salzwasser in Süßwasserquellen eindringen wird. Letzteres kann nicht nur die Wasserversorgung gefährden, sondern auch die landwirtschaftlichen Erträge. Der Bericht zeigt damit aber auch, wo sich das Land anpassen könnte oder muss: wo Baustellen verschoben, Gebäude umgesiedelt, Land aufgeschüttet oder Fußbodenlevel erhöht werden müssten - Optionen, die größtenteils mit hohen Kosten verbunden sind.

Kathy Jetñil-Kijiner, Dichterin und Klimabotschafterin der Marshallinseln, war schockiert, als sie den Bericht las. Ihr sei bereits bewusst gewesen, dass ihr Land »eine düstere Zukunft« habe, meinte sie, aber jetzt sei dies noch mal eindeutiger geworden. Zudem musste sie mit Schrecken feststellen: »Eine der Inseln, die zu 100 Prozent unter Wasser stehen und vollständig bedeckt sein wird, ist Jaluit«, sagte sie. Das sei die Insel, von der ihre Familie stamme. »Es ist das Land, nach dem meine Tochter benannt ist.«

Mit den Komplikationen des täglichen Lebens oder Überlebens gehen auch rechtliche Probleme einher. So könnten die Marshallinseln sogar ihren Status als Nation verlieren, wenn die Stabilität, die Abgrenzung des Territoriums und die Bevölkerung verloren gingen. Unter Umständen könnten so auch die großräumige exklusive Meereszone und damit der Zugang zu wichtigen Fischereigebieten verloren gehen - eine Problematik, die die Staats- und Regierungschefs der Region im »Pacific Islands Forum« im August besprachen.

Eine weitere Gefahr entsteht durch den Atommüll, den die USA während des Kalten Kriegs in einem Betonbunker auf der zu den Marshallinseln gehörenden Eiland Runit eingeschlossen haben. Seit Ende der 1970er Jahre lagern auf der Insel 85 000 Kubikmeter nuklearer Abfall, darunter Plutonium-239, eine der giftigsten Substanzen der Erde. Der Müll liegt direkt auf dem Boden der Insel, abgedeckt mit einem 50 Zentimeter dicken Betondeckel. Seit der Meeresspiegel ansteigt, droht die Kuppel auseinanderzubrechen. Dringt das Plutonium ins Meer, könnte es große Teile des Pazifiks verseuchen.

Auch andere Inselstaaten im Pazifik leiden schon jetzt unter dem Klimawandel. Fünf unbewohnte Inseln der Salomonen verschwanden 2016 im Meer, ein Dorf auf Kiribati musste bereits umgesiedelt werden. Hier haben Überschwemmungen und Sturmfluten in den vergangenen Jahren bereits viel Land unbrauchbar gemacht: Süßwasserbrunnen sind versalzt, Ernten zerstört worden.

Manche Medienberichte sprechen davon, dass Kiribati ähnlich wie die Marshallinseln schon in wenigen Jahren unbewohnbar sein könnte. Rund 100 000 Menschen müssten dann umgesiedelt werden. Ursprünglich hatte der Inselstaat schon in Land in Fidschi investiert, um für seine Bürger notfalls dorthin umzusiedeln. Derzeit wird das Land jedoch laut Medienberichten von Anfang des Jahres mit »technischer Hilfe« aus China in eine kommerzielle Farm umgewandelt, die Nahrungsmittel für den Pazifikstaat produzieren soll. Zudem wurden bereits Pläne für eine künstliche Insel diskutiert, auf der rund 30 000 Menschen leben könnten.