nd-aktuell.de / 02.11.2021 / Kultur / Seite 13

Jenseits des Idylls

Zum Tod des Folkmusikers Matthias Kießling

Wolfgang Hübner

Volksmusik muss nicht kitschig sein. Sie muss nicht spießig, bieder und abgedroschen sein. Sie muss nicht klingen wie bei Heino, bei Carmen Nebel oder Florian Silbereisen. Das haben schon vor Jahrzehnten Bands wie Zupfgeigenhansel und Liederjan im Westen, Folkländer und Wacholder im Osten bewiesen.

Matthias Kießling gehörte zu denen, die in den 70ern begannen, das Volkslied zu entstauben, es vom Mief des Altbackenen zu befreien. Wie so oft im Leben war dazu eine Portion Zufall nötig: Wären sich nicht bei einer Faschingsfeier Anfang 1978 in Cottbus ein paar Studenten begegnet, die eigentlich Bauingenieure werden wollten, hätten sie nicht spontan musiziert und improvisiert - vielleicht hätte es Wacholder[1] nie gegeben. Eine Folkband, die schnell Erfolg hatte und stilbildend für die Szene in der DDR wirkte. Über die Jahre wechselten die Besetzungen, ein Trio war sehr lange die Konstante: neben Kießling die charismatische Sängerin Scarlett Seeboldt sowie Gitarrist und Sänger Jörg Kokott.

Schnell wurde Wacholder eine der bekanntesten, weil besten Folkbands der DDR. Es gab Vorbilder im Westen, dort hatte die Wiederbelebung der deutschen Folklore schon ein paar Jahre früher begonnen, aber die ostdeutsche Folkbewegung war kein Abklatsch, sie fügte etwas ganz Eigenes hinzu. Das war keine Herbert-Roth-Gefälligkeit, kein Oberhofer-Bauernmarkt-Idyll, keine Schunkel- und Mitklatschstimmung[2]. Bands wie Wacholder führten vor, wie aufsässig, störrisch und subversiv das Volkslied sein kann, wie ungeheuer lebendig - und wie sehr es geeignet ist, sich über Obrigkeiten lustig zu machen.

Das taten Kießling und Kollegen, die ihre musikalische Ausbildung am Cottbuser Konservatorium erhielten, auf hohem Niveau: virtuos auf den Instrumenten - Kießling unter anderem auf dem Akkordeon und anderen Tasteninstrumenten sowie auf der Gitarre, auf der er sich das beeindruckende Finger Picking beibrachte -, bestechend im Satzgesang. Sie gruben alte, längst vergessene Lieder aus - rebellische Songs und berührende Balladen, die mehr Geschichte vermitteln als manche Unterrichtsstunde -, komponierten selbst, beschäftigten sich mit irischer Folklore.

Kießling gehörte zu denen, die sich nicht streng an die Grenzen des Genres hielten. Dass er sich, zumal nach dem Ende von Wacholder, auch ans Keyboard setzte, erzürnte manchen Folkpuristen. Ihm war das egal; Hauptsache, es entstand gute Musik. Der Mann, der aus dem Erzgebirge stammte und dann in der Niederlausitz hängen blieb, interessierte sich auch für sorbische Volkslieder, komponierte Musik zu sorbischen Texten.

Erst im September hat Kießling wieder ein Konzert gegeben, Irish Folk, gemeinsam mit der irischen Geigerin Máire Breatnach. Vor einer Woche ist der Mann mit der wallenden Mähne und der rauen Stimme im Alter von 65 Jahren gestorben.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/124393.derb-nie-grob-unueberhoerbar-nie-schrill.html?sstr=wacholder|folk
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1116200.thomas-ebermann-die-sturmriemen-um-den-stahlhelm-werden-enger.html?sstr=ebermann