nd-aktuell.de / 05.11.2021 / Berlin / Seite 7

SPD-Neubau-Mantra ohne Faktenbasis

Laut Stadtentwicklungsverwaltung braucht Berlin bis 2030 rund 80 000 Wohnungen weniger als Franziska Giffey fordert

Nicolas Šustr

Zahlen lügen nicht, heißt es. Allerdings sind bei Prognosen die Annahmen wichtig, auf die sie sich stützen. Die SPD hat im Wahlkampf den Bau 200 000 neuer Wohnungen bis 2030 versprochen, das hat sich auch im Sondierungspapier von SPD, Grünen und Linke zu den laufenden Koalitionsverhandlungen niedergeschlagen.[1] Basis sind die Forderungen des Fachausschusses Soziale Stadt der Berliner Sozialdemokraten unter Vorsitz von Volker Härtig, einem in der Baubranche sehr gut vernetzten Mann. Der errechnete Bedarf beruht auf der von ihm getroffenen Annahme, dass in Berlin zum Ende des Jahrzehnts mindestens vier Millionen Menschen leben werden.

Nur 121 000 Wohnungen benötigt

Die Stadtentwicklungsverwaltung geht jedoch für die Jahre 2022 bis 2030 nur von einem Bedarf von 121 000 zusätzlichen Wohnungen aus. Das liegt zum einen daran, dass der im Stadtentwicklungsplan Wohnen errechnete Neubaubedarf von 194 000 Wohneinheiten vom Startpunkt 2017 ausgeht. Bis Ende 2020 sind 68 000 neue Wohnungen gebaut worden. »Fürs Jahr 2021 wird von der Fertigstellung von rund 16 000 Wohnungen ausgegangen«, erklärt die Verwaltung auf Anfrage von »nd«. Bis 2030 rechnet man nur noch von einem Bevölkerungszuwachs um 108 000 Menschen in der Hauptstadt.

Bevölkerung stagniert das zweite Jahr

Das liegt noch einmal deutlich unter der Anfang 2020 veröffentlichten offiziellen Bevölkerungsprognose des Senats, die in der mittleren Variante von 3,925 Millionen Berlinerinnen und Berlinern im Jahr 2030 ausging. Da war noch nicht der Einfluss der Corona-Pandemie abzusehen. Seit Ende 2019 stagniert die Bevölkerungszahl in der Hauptstadt. Das Statistische Landesamt Berlin-Brandenburg meldete zur Jahresmitte 3,664 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner - rund 5000 weniger als Ende 2019. Die Schrumpfung hängt allerdings hauptsächlich mit der Bereinigung des Einwohnermelderegisters zusammen.

Allein der Bevölkerungszuwachs führt unter Berücksichtigung eines Abgangs von rund 1000 Bestandswohnungen pro Jahr zu einem Neubaubedarf von 67 000 Wohneinheiten. Der Nachholbedarf wegen zu geringer Bautätigkeit in den 2010er Jahren konnte inzwischen von 77 000 auf 54 000 Wohnungen reduziert werden.

Für rund die Hälfte der rechnerisch benötigten Wohnungen gibt es sogar Baurecht. Der sogenannte Bauüberhang, also genehmigte, aber noch nicht fertiggestellte Wohnungen liegt seit Jahren kontinuierlich bei über 60.000. Ende 2020 war nur bei etwas über einem Drittel davon nicht mit dem Bau begonnen worden.

»Es muss in den Koalitionsverhandlungen darum gehen, konkret anhand des Bestands und der Bevölkerungsprognosen den tatsächlichen Bedarf zu bestimmen«, fordert Tilmann Heuser, Berliner Landesgeschäftsführer des Umweltverbandes BUND.

Das folgt dem Credo aus einem 21-seitigen Positionspapier des BUND für die Koalitionsverhandlungen. »Eine ökologisch verträgliche Stadtentwicklungspolitik muss sich daher auf eine effizientere Nutzung der bestehenden Siedlungs- und Verkehrsfläche für Wohnen, Arbeiten, Freizeit und mehr Grün konzentrieren«, heißt es in dem »nd« vorliegenden Papier. Damit müsse »einhergehen, dass der Flächenverbrauch bis spätestens 2030 auf Netto-Null reduziert« werde, für den hochverdichteten Innenstadtbereich soll dieses Ziel sogar bereits im Jahr 2025 erreicht werden.

Traufhöhe soll nicht mehr heilig sein

»Wir bekennen uns zum ›Urbanen Bauen‹ auch über die bisherige Traufhöhe hinaus«, heißt es im rot-grün-roten Sondierungspapier. Dieser Satz lässt sich unterschiedlich interpretieren. Sollte damit eine Aufstockung im Bestand oder eine maßvolle Erhöhung bei Neubauten gemeint sein, dürften sich die Koalitionspartner in diesem Punkt in den laufenden Fachverhandlungen schnell einig werden.

Allein das Potenzial von Dachausbauten zur Schaffung neuen Wohnraums ist nicht zu verachten. Die Genossenschaft Diese eG plant und realisiert diese in allen ihren Häusern. Zu den 147 existierenden Wohnungen sollen so 15 weitere dazukommen. Angeboten werden derzeit zwei Wohnungen in einem Haus an der Boxhagener Straße, die in einem Jahr fertiggestellt sein sollen. Die geplante Nettokaltmiete liegt bei 10 Euro pro Quadratmeter, für eine frei finanzierte Wohnung als Quasi-Neubau ein vergleichsweise günstiger Preis.

Gewinn für Klimaschutz und Wohnraum

»Das ist eine Win-Win-Situation für Klimaschutz und Wohnraum«, sagt Tilmann Heuser vom BUND. Denn die nötige energetische Sanierung des Daches fällt dabei zusammen mit der Schaffung neuer Wohnungen.

Eine Bremserin beim Dachgeschossausbau ist allerdings die Berliner Feuerwehr. Sie verlangt 5,50 Meter breite Aufstellflächen für ihre Fahrzeuge oder den Bau eines teuren sogenannten zweiten Rettungswegs, einer zusätzlichen Treppe. Doch landauf, landab begnügen sich viele Feuerwehren mit 3,50 Metern, weil es in der Regel reicht, die stützenden Ausleger auf der Seite auszufahren, auf die die Leiter schwenkt.

Allerdings könnte der Satz im Sondierungspapier auch so verstanden werden, dass die Genehmigungshürden für Hochhäuser[2] reduziert werden. Das wollte die Linke-Stadtentwicklungsexpertin Katalin Gennburg nicht mitmachen. »Das Hochhausleitbild ist ein großer Erfolg der letzten Legislatur, weil es den Auswüchsen der investorengetriebenen Stadtentwicklung planerisch begegnet«, sagt sie zu »nd«.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1157744.stadtentwicklung-und-mieten-beton-statt-beteiligung.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1155357.betongold-turmbau-zu-berlin.html