nd-aktuell.de / 06.11.2021 / Politik / Seite 14

»Mama, wir möchten nicht, dass Papa ins Gefängnis muss«

Eine Familie über die traumatischen Folgen sexuellen Missbrauchs

Katja Spigiel

Wie aus dem Nichts erreichte Stefanie ein Anruf der Kriminalpolizei. In einem sachlichen, ruhigen Ton erklärte jemand am anderen Ende der Leitung, dass auf dem Computer ihres ehemaligen Lebensgefährten kinderpornografisches Material gefunden wurde. Zu sehen sind die beiden gemeinsamen Kinder. Die Familie lebt seit einigen Jahren vom Vater getrennt, die Bilder müssen während des zweiwöchigen Besuchs der Kinder in den Sommerferien entstanden sein. Bald ist der Anruf zwei Jahre her. Kim ist 13 Jahre alt und Simon wird bald zehn.

In den ersten Sekunden und Minuten verstand Stefanie die Botschaft hinter den Worten der Polizistin nicht. Die Ermittlerin sprach von pornografischem Material, auf dem ihre Kinder zu sehen sind. Die Worte wirkten aber wie leere Hülsen. Erst als sie das Telefon zur Seite legte, realisierte sie allmählich die Bedeutung des Gesagten. »Dieser Anruf hat unser ganzes Leben verändert. Ich habe hemmungslos geweint. Wie konnte das sein? Wie konnte ich nichts merken? Fragen über Fragen, die mir nach und nach in den Kopf kamen und ich eigentlich hätte fragen sollen. Aber ich konnte nicht. Ich war wie gelähmt, hatte Mühe zu atmen, nur einen klaren Gedanken zu fassen.« Zur Bestätigung der Identität ihrer Kinder musste sich Stefanie Ausschnitte des Materials ansehen. Sie sah, wie ihre Kinder mit Kondomen spielten und dass ihre Tochter Reizunterwäsche trug. »Sie haben mir auch gesagt, dass es … also … zu dem Akt an sich gekommen sei. Das sei auf einem der Videos zu sehen.«

Eineinhalb Jahre später ist der Alltag der Familie von Therapien und Diagnostik-Terminen bestimmt. Stefanie gibt zu, dass noch ein »ganzer, langer Rattenschwanz« an der Sache hängt. In ihrer Therapie setzt sie sich mit Schuldgefühlen und Depressionen auseinander. Suizidgedanken spielten in der Vergangenheit ebenso eine Rolle.

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Das, was Stefanies Kindern passiert ist, lässt sich definitiv nicht als »Einzelfall« abtun: Die polizeiliche Kriminalstatistik belegt einen deutlichen Anstieg von Fällen des sexuellen Missbrauchs an Kindern. Im Vergleich zum Vorjahr gab es 6,8 Prozent mehr registrierte Missbrauchsfälle an Minderjährigen - das sind insgesamt 14 500 Delikte. Eine Zahl, die seit etwa zehn Jahren auf einem ähnlich hohen Niveau liegt, und dazu noch langsam und stetig steigt. Zu bedenken ist dabei: Diese Zahlen bilden das sogenannte Hellfeld ab. Das Dunkelfeld, das noch weitaus höher sein dürfte, ist gar nicht erfasst. Rein rechnerisch könnten so in jeder Schulklasse ein bis zwei Kinder sitzen, die von sexueller Gewalt betroffen waren - oder es noch immer sind.

Im Bereich Verbreitung, Erwerb, Besitz und Herstellung von Kinderpornografie ist verglichen mit dem Vorjahr sogar ein Anstieg von 53 Prozent zu verzeichnen. Gerade im ersten Corona-Lockdown ist die sexuelle Ausbeutung von Kindern im Netz laut Europol zu einem internationalen Phänomen geworden. Der Konsum von Missbrauchsabbildungen soll um circa 30 Prozent gestiegen sein.

Die Liste von Diagnosen von Kim und Simon ist lang: Traumata, posttraumatische Belastungsstörungen, Schlafstörungen und Dissoziationen. Unter dissoziativen Störungen ist ein Zustand des Losgelöstseins zu verstehen. Betroffene nehmen die Außenwelt, eigene Gefühle und Gedanken sowie ihren Körper nicht mehr wahr. Unbewusst trennen sie psychische Fähigkeiten voneinander. Besonders Simon reagiert immer wieder auf Trigger und dissoziiert. »In solchen Situationen wird er ganz steif, er starrt ins Leere und reagiert nicht mehr darauf, wenn man ihn anspricht.«

»Boys don’t cry«

Während Therapieplätze für Mutter und Tochter recht schnell gefunden waren, musste sich der Junge in Geduld üben. Ganz gleich wo: Es dominieren Beratungsstellen, die sich auf weibliche Betroffene spezialisiert haben. Diese seien, so Stefanie, überfordert mit einem zu therapierenden Jungen. Simon wollte außerdem einen männlichen Therapeuten haben. Das verlängerte die Wartezeit um ein weiteres Dreivierteljahr.

Beratungsstellen, die beiden Geschlechtern ein offenes Ohr schenken, sind rar. Die Sozialpsychologin Petra Klecina arbeitet beim Frauennotruf Hannover - einer Institution, die ausschließlich für Frauen zuständig ist. Sie sagt, dass in den 70er Jahren im Zuge der Frauenbewegungen erstmals öffentlich über sexuelle Gewalt gesprochen worden sei. Das damalige Credo lautete: »Das Private ist politisch«, damit sollten Tabus gebrochen werden, Frauen wollten auf Ungerechtigkeiten und Misshandlungen im privaten Umfeld aufmerksam machen. Dabei lag der Fokus vor allem auf Gewalt, die von männlichen Tätern ausging. So entstanden die ersten Beratungsstellen als feministische Projekte.

Georg Fiedeler, Leiter der Fachberatungsstelle »Anstoß« des Männerbüros in Hannover, weiß, dass Frauen stark dafür kämpften, Unterstützungssysteme in die Gesellschaft einziehen zu lassen. Das sei nachvollziehbar und richtig. »Anstoß« ist eine der wenigen Stellen in Deutschland, die sich explizit auf sexualisierte Gewalt an Jungen spezialisiert hat. Bundesweit gäbe es etwa zehn vergleichbare Stellen.

Auch Klecina weiß um das Problem fehlender Beratungsstrukturen für männliche Opfer. Allerdings spricht sie davon, dass es schlichtweg nicht der Auftrag von Frauenberatungsstellen sei, Männer und Jungen zu beraten. Und trotzdem gebe es inzwischen vereinzelt Einrichtungen, die das täten, um die Lücke im Beratungsangebot zumindest ein Stück weit zu schließen. Besonders dünn ist das Therapieangebot - ganz gleich, ob speziell für männliche oder weibliche Betroffene - in ländlichen Gegenden, die Rede ist hier auch von »weißen Flecken« auf der Landkarte. An die Fachberatungsstelle »Anstoß« wenden sich zwölf Prozent der Hilfesuchenden von außerhalb der Region und nehmen teilweise eine Anreise von Hunderten Kilometern in Kauf.

Fiedeler glaubt, dass Frauen kollektiv eher als Opfer wahrgenommen werden. Das Opfersein des Mannes sei dagegen tabuisiert. Er erklärt: »Sprüche wie ›Boys don’t cry‹ zeigen, was innerhalb der Geschlechterrollen erwartet wird. Ein Junge muss stark sein, muss Schmerzen aushalten. Opfersein ist das genaue Gegenteil davon: Hilflosigkeit, Schwäche, Machtlosigkeit.« So kämen männliche Betroffene mit Erwartungen, die die Gesellschaft an sie stellt, in Konflikt. Und damit auch mit Erwartungen an sich selbst. Der Geschlechterforscher Hans-Joachim Lenz fasst die gegenwärtige Identitätskonstruktion in einem Aufsatz zusammen: »Entweder ist jemand ein Opfer oder er ist ein Mann.« In diesem Zusammenhang empfindet es Fiedeler als denkbar, dass die Dunkelziffer von männlichen Opfern die der Frauen sogar übersteige. Klecina vom Frauennotruf Hannover will dieser These nicht zustimmen. Es fehlten belegbare Zahlen und die Dunkelziffer bei Mädchen und Frauen sei eben auch sehr hoch.

Das Ganze soll jedoch kein Wettbewerb sein. Der springende Punkt sei laut Fiedeler, dass männliche Opfer genauso ernst genommen und gewürdigt werden müssten - ohne ihre Erfahrungen gegenüber den von weiblichen Betroffenen aufzurechnen. Der Fokus liege darauf, entsprechende Unterstützungssysteme bereitzustellen, und zwar nicht zulasten von Frauen. Das Sichtbarmachen von männlicher Betroffenheit könnte auf lange Sicht bewirken, dass es weiteren Männern möglich wird, über ihre Erfahrungen zu sprechen und über gesellschaftliche Erwartungen hinwegsehen zu können.

»Peinliche« Wahrheit

Glück im Unglück: Kim und Simon sind nicht von dieser Dunkelziffer verschluckt worden. Trotzdem behandelt vor allem Kim ihre Termine wie ein Geheimnis. Freund*innen erzählt sie von vermeintlichen Knieproblemen und einem Physiotherapeuten. Die Wahrheit sei viel zu peinlich. Fiedeler kennt solche Ausreden. Dabei sei die Frage danach, was im Therapiekontext passiert, gar nicht so wichtig. Es gehe viel mehr darum, wie es dem Kind jetzt gehe sowie ein Gesprächsangebot zu bieten, in dem Betroffenen Raum für ihre Gedanken und Gefühle gelassen wird. »Ich sage den Kindern, dass ich nicht weiß, was ihnen passiert ist. Aber auch, dass ich es nicht zwingend wissen muss. Sie sollen wissen, dass ich mich gut damit auskenne, wie es einem in so einer Situation gehen kann. Dann erst legen sie die Päckchen auf den Tisch, die sie mit sich rumschleppen«, erklärt der Therapeut. Stefanie beobachtet, dass ihre Kinder nach den Sitzungen geschafft und nachdenklich seien. Sie bräuchten immer eine gewisse Zeit, um wieder zurück in den Alltag zu finden.

Belohnungen und Geschenke

Kim und Simon mussten erst lernen, dass es nicht richtig war, was zwischen ihnen und ihrem Vater passierte. Als die Taten ans Licht kamen, nahmen sie ihn in Schutz. Es sei nicht schlimm gewesen, und sie hätten doch mitmachen wollen. Heute fragen sie: »Muss der Papa jetzt ins Gefängnis? Das wollen wir nicht.« Die Kinder waren sich sicher, dass genau das passieren würde, wenn sie mit jemandem darüber sprechen würden, was in den Ferien passierte. Vom Vater wurden die Kinder immerzu reich beschenkt. Stefanie kann sich aus heutiger Sicht gut vorstellen, dass er ihr Schweigen damit erkaufen wollte und auch, dass all die Spielsachen eine Art Belohnung sein sollten.

Erst vor einigen Wochen wurde Simon wegen seiner Dissoziationen in einer Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik aufgenommen. Ihm fiel es schwer sich einzuleben, weswegen er schnell wieder entlassen wurde. Die Familie arbeitet jetzt gemeinsam daran, an Stabilität zu gewinnen. Auf ihrem Instagram-Account wandte sich Stefanie bewusst an die Öffentlichkeit. Sexualisierter Missbrauch passiert und dürfe nicht totgeschwiegen werden. Eben dafür wollte sie ein Bewusstsein schaffen.

Dem Vater wurde ein strenges Kontaktverbot zu den Kindern auferlegt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt noch immer, und zu einer Gerichtsverhandlung ist es bisher nicht gekommen. Als der Kindsvater Stefanies Instagram-Account fand, löschte sie ihn.

Die Namen der Familienmitglieder wurden von der Redaktion geändert.

Links:

  1. http://dasnd.de/1158333