nd-aktuell.de / 06.11.2021 / Politik / Seite 15

Feigenblatt der Aufklärung?

Jens Windel von der Betroffeneninitiative Hildesheim beklagt die Ignoranz der Kirche und sieht kein Interesse an ehrlicher Aufarbeitung

Katja Spigiel

Der 28. Januar 2010 gilt als Stichtag für einen aufklärerischen Tsunami gegen sexuellen Missbrauch. Es ist der Tag, an dem die »Berliner Morgenpost« von ehemaligen Schülern einer Berliner Jesuitenschule berichtet, die nach Jahren des Schweigens erzählen, dass sie von ihren Lehrern sowohl psychisch als auch sexuell missbraucht wurden. Es kommt etwas ins Rollen: Betroffene aus dem ganzen Land fühlen sich dazu ermutigt, ihre Geschichte zu erzählen. Eine Bagatellisierung von »Einzelfällen« ist ab sofort nicht mehr möglich.

Die Bundesregierung ernennt kurzerhand einen Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM): Johannes-Wilhelm Rörig hat dieses Amt seit 2011 inne. Er macht darauf aufmerksam, dass in unserer Gesellschaft beim Thema des sexuellen Missbrauchs »ohrenbetäubend geschwiegen« werde. Georg Fiedeler von der Fachberatungsstelle »Anstoß« des Männerbüros Hannover meint, dass Rörig deutliche Worte für ein reales Problem findet. Rörig sollte mit seiner Position eine Schnittstelle zwischen Politik und der Realität von Betroffenen schaffen. Forderungen nach mehr Geld für Beratungsstellen und Präventionsmaßnahmen blieben aber unerfüllt. Rörig fordere zwar das Richtige, habe bislang aber wenig Erfolg damit. Er nennt das »Feigenblatt der Aufklärung«. Petra Klecina von der Fachberatungsstelle Frauennotruf Hannover sagt, dass Rörig vieles angeschoben habe. Natürlich - es könne mehr sein, doch Klecina glaubt: Scheitern tut es an der Politik.

Wenn medial die Rede von Missbrauch an Kindern ist, dann allzu oft im Kontext der katholischen Kirche. Auch Jens Windel hat als Kind einen Missbrauch von besonderer Schwere erlebt. Der Täter war ein Geistlicher. Nachdem Windel einen Antrag auf Anerkennung des Leids stellte, erhielt der heute 47-Jährige eine Geldsumme, die »in keiner Weise das Durchlebte widerspiegelt. Das war wie eine Ohrfeige«. Danach fing er an, sich mit dem Thema rund um die Kirche zu beschäftigen. Er habe viel gelesen, letztlich auch selbst Kommentare und Artikel geschrieben, bis er zu einem Punkt der Ohnmacht gelang, das Gefühl hatte, weder sich selbst noch anderen Betroffenen damit helfen zu können. Gegenüber dem Bistum Hildesheim äußerte er den Plan, eine Betroffeneninitiative zu gründen. Dabei war es Windel besonders wichtig, kirchlich unabhängig agieren zu können. Das bedeutet: Das Bistum fördert die Initiative zwar finanziell, doch in dem, was die Mitglieder anstoßen und tun, sind sie völlig frei.

Herr Windel, was ist unter dem Stichwort »Anerkennung des Leids« zu verstehen?

Die Anerkennung des Leids soll im Prinzip ausdrücken, dass man den Schaden, der bei dem oder der Betroffenen entstanden ist, anerkennt. Die Kirche versucht damit ein Stück weit etwas wieder gutzumachen, das als solches natürlich nicht wieder gutzumachen ist. Aber es soll zumindest ein wenig lindern. Es ist wie ein anderer Begriff für Schmerzensgeld, nur dass das keine Legaldefinition ist, kein Rechtsbegriff, auf den man sich juristisch berufen kann. Aber darauf haben sie sich nicht eingelassen. Eigentlich ist es ein weicher Ausdruck für »Wir wollen kein Schmerzensgeld bezahlen, weil dann sind wir juristisch belangbar, also formulieren wir das einfach um - in eine Anerkennung des Leids. Wir erkennen etwas an, was eventuell stattgefunden hat. Aber es ist nur eine Vermutung.«

Mit welchen Folgen haben Betroffene zu kämpfen?

Man hat mit ganz vielen persönlichen Päckchen zu tun. Eine Normalität, wie andere sie erleben, die gibt es bei uns Betroffenen nicht: Vertrauen kann nur langsam aufgebaut werden, das Selbstbewusstsein ist zerstört, Beziehungen einzugehen ist total schwer, das Sexualleben leidet. Es gibt immer wieder Schlüsselmomente, die Bilder wieder hochkommen lassen, man stößt an seine Grenzen, ist nicht so belastbar. Man kann nicht schlafen, liegt oft wach. Diese vielen kleinen Päckchen machen das Gesamte unheimlich schwer. Es kommen noch die Diagnosen dazu, die man entwickelt hat. Viele leiden - auch ich - am Schmerzsyndrom. Bei mir hat sich noch dazu eine Autoimmunkrankheit entwickelt, mein Körper zerstört sich von selbst. Das ist teilweise lebensbedrohlich.

Wie bewerten Sie insgesamt die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche?

Viele Betroffene, die mich kontaktieren und mir ihr Leid klagen, kommen nicht gegen die Machtstrukturen und die Ignoranz an, die an den Tag gelegt wird. Die Kirche erklärt nicht selten, dass sie sich die Anerkennungsleistungen nicht leisten könne, man könne das ja nicht aus den Kirchensteuergeldern finanzieren. Ich sage mal so: Wenn ich heute verurteilt werde, weil ich betrunken ein Kind umgefahren habe, dann kann ich nicht sagen, dass ich die Strafe nicht von meinem Gehalt bezahle, sondern lieber von meinem Geburtstagsgeld. Und wenn man bedenkt, was die Kirche für ein Vermögen hat, wäre eine Auszahlung klar machbar.

Die Missbrauchsfälle sind auch Bestandteil des Reformdialoges auf dem synodalen Weg. Wie bewerten Sie das?

Ich vergleiche das immer so: Auf einer Kreuzung wird jemand angefahren. Anstatt dass man dem oder der Betroffenen hilft und Erste Hilfe leistet, guckt man erst mal: Wie macht man die Kreuzung sicherer? Darüber unterhält man sich dann eine Weile. Wir Betroffene müssen immer wieder eine Aufarbeitung anregen - eine ehrliche Aufarbeitung. Sicherlich ist eine Aufarbeitung schmerzhaft für die Kirche, aber sie könnte ihre Glaubhaftigkeit dadurch behalten. Aber so? Gerade so aufzuarbeiten, was über die Wasserkante überschwappt - das ist keine ehrliche Aufarbeitung.

Was müsste gegeben sein, um eine vollständige und respektvolle Aufarbeitung zu gewähren?

Die Politik muss sich einmischen. Es kann nicht sein, dass sich die Politik so weit rausnimmt und sagt: »Wir lassen die Kirche mal machen, und dann stellen wir einen Missbrauchsbeauftragten ein und das war’s dann.« Im Moment hat die Politik die Verantwortung dem Täter überlassen, sprich: der Kirche. Die kann damit umgehen, wie sie will. So ist der Täter gleichzeitig auch die Verwaltung, die Aufarbeitung und der Richter. Die Politik müsste die Gesetzeslage anpassen und Missbrauchstaten stärker bestrafen. Und sie müsste eine Art Dachverband für Betroffene schaffen und Gelder zur Verfügung stellen, sodass wir finanziert werden, uns untereinander vernetzen können und echte Aufarbeitungsarbeit leisten können. Dafür muss der Rahmen geschaffen werden.

Was halten Sie von der Arbeit des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs?

Ich glaube, dass die Politik da dem öffentlichen Druck nachgegeben hat und diese Stelle geschaffen hat, um nach außen hin glaubhaft aufzutreten. Ich persönlich glaube, dass Herr Rörig sehr engagiert ist, aber auch, dass er an seine Grenzen stößt. Seine Tätigkeit reicht absolut nicht aus, es muss viel mehr passieren.

Der UBSKM und Herr Rörig selbst plädieren auch für eine stärkere Beteiligung des Parlaments an der Aufarbeitung von Missbrauch. Auch das Amt solle gesetzlich verankert sein. Damit sei unter anderem eine Berichtspflicht gegenüber dem Parlament, der Regierung und dem Bundesrat verbunden. Rörig formulierte auch die Idee eines parlamentarischen Begleitgremiums, das sich mit Fragen und Folgen des sexuellen Missbrauchs befasst. Alles Ansätze, die helfen könnten, politisches Handeln anzuregen. Zum Ende der laufenden Legislaturperiode legt Rörig aber sein Amt nieder. Was danach passiert, liegt in der Verantwortung der neuen Bundesregierung.

Lesen Sie auch »Mama, wir möchten nicht, dass Papa ins Gefängnis muss«[1] von Katja Spigiel

Links:

  1. http://dasnd.de/1158330