nd-aktuell.de / 27.11.2021 / nd-Commune / Seite 46

Der arme Paris

Schon zu sagenhaften Zeiten waren die Algorithmen schuld

MIKE MLYNAR

MIKE MLYNAR

Immer wenn die Menschheit mit sich nicht im Reinen ist, hält sie Ausschau nach einem Sündenbock. Möglichst einem, den zwar die Mehrheit nicht so richtig durchschaut, dem aber gerade deshalb alles gut unterzuschieben ist. So ist laut öffentlicher Medienmeinung seit Jüngstem an vielem, wenn nicht gar an allem der meist imaginäre, in jedem Fall aber irgendwie böse Algorithmus schuld. Egal ob an mieser Gesamtlage oder an Bahnverspätungen, ob am Verhalten von Wählern und Nichtwählern, an den Tankstellenpreisen oder daran, dass Facebook neuerdings eigentlich Meta heißt. Nicht wenige trauen dem Algorithmus sicher schon allein deshalb alles Ungute zu, weil sie ihn mit dem Logarithmus verwechseln, der sie schon in der Schulzeit quälte.

Sündenböcke sind aber keine neue Erfindung. Wir kennen sie schon aus echt sagenhaften Zeiten. Denken wir nur an den unbescholtenen Hirtenjungen Paris. Dem hatte Zeus die Entscheidung der Schönheitskonkurrenz zwischen den Göttinnen Hera, Athene und Aphrodite aufgebrummt. Der Sage nach bestach eine Dame den Paris am besten, nämlich mit dem Versprechen, ihm die schönste Frau der Welt zu beschaffen. Der Haken nur, dass diese, nämlich Helena, schon das Eheweib des Spartakönigs Menelaos war, sie nun also geraubt werden musste, was bekanntlich den jahrzehntelangen Trojanischen Krieg auslöste usw., usf. Und schuld war jahrtausendelang der arme Paris.

Ob er mit einem Algorithmus besser beraten gewesen wäre als mit seinem geschmäcklerischen Urteil, ist zu bezweifeln. Zumindest aber hätte er dem Algorithmus die Schuld an der ganzen Misere zuschieben können. Wenn es nämlich wie hier gelaufen wäre:

Die Göttinnen Hera, Aphrodite und Athene fragen den klugen Paris, wer von ihnen die Schönste sei. Sie machen dabei folgende Aussagen: Aphrodite: »Ich bin die Schönste.« Athene: »Aphrodite ist nicht die Schönste.« Hera: »Ich bin die Schönste.« Aphrodite: »Hera ist nicht die Schönste.« Athene: »Ich bin die Schönste.«

Paris, der gerade ausruht, gibt sich gar nicht erst die Mühe, sich dem Schatten, der seine Augen vor der Sonne schützt, zu entziehen. Auch so könne er eine der drei Göttinnen als die definitiv schönste benennen. Dabei setzt er voraus, dass alle Aussagen dieser schönsten Göttin wahr, alle Aussagen der beiden anderen jedoch falsch sind. Kann Paris unter dieser Voraussetzung das von ihm geforderte Urteil fällen? Wenn ja, wie lautet es?