nd-aktuell.de / 04.12.2021 / Kultur / Seite 46

Für die Kaution wird es reichen …

Ein Romandebüt. Über die Erschöpfung vom Patriarchat, von Normen und Formen, Ausreden und Zwängen. Über Unverständliches. Über Bosnien

Die dritte Wohnung seit heute Morgen. Die letzte für heute. Notgedrungen lasse ich mich auf das Abenteuer ein. Wir unterhalten uns. Ich fürchte, er könnte mich durchschauen. Gleich könnte genau das eintreten, was in meinen Gedanken Kreise dreht. Ich schwitze. Abnormal. Als ob gleich etwas Schreckliches passiert. Jeden Augenblick. Dann werde ich keinen Mucks mehr von mir geben und anfangen zu zittern. Tief einatmen, das hat mir Dolores vor ungefähr fünfzehn Jahren beigebracht. Ich erinnere mich noch gut. Ich sauge die Luft der kleinen Küche mit großem Fenster tiefer ein. Ich atme und betrachte das einzigartige Dächer-Ensemble vor mir. Beantworte die Fragen. Mir wird Kaffee angeboten. Ich nehme einen. Jetzt wird es passieren. Er wird die Titelseite der Zeitung anschauen. Und mich erkennen. Mir gefällt diese Wohnung. Sie ist kuschelig. Mir gefällt mittlerweile alles. Meine Ansprüche fallen mit den Lidern meiner müden Augen. Außerdem ist sie hell, das ist doch wohl wichtig. Hauptsache, ich breche nicht völlig zusammen. Ich nehme mir vor zuzuhören und nur zu reden, wenn ich gefragt werde. Schon passiert es. Dreißig. Ich arbeite. Ich schreibe. Oh, schön, du bist Künst*lerin. Ich bin Komponist. Vor dir hat hier ein junger Mann von der Kunstakademie gewohnt. Schau, seine Zeichenbögen sind in der Wohnung geblieben, nimm sie ruhig, wenn du sie gebrauchen kannst. Ich schreibe Bücher, zur Zeit einen Roman. Nein, leider habe ich kein Exemplar dabei. Ja, einen Hund, mittelgroß. Genau, der Richtige ist noch nicht gekommen. Ich finde es okay, allein zu sein. Stimmt, einfacher ist es zu zweit. Das tut mir leid, dass Ihre Frau gestorben ist. Paarundzwanzig Quadratmeter mit separater Küche. Sie müssen mich nicht siezen. Das hier ist der alte Eingang, vom Hof, er war früher für die Angestellten. Der Eingang gehört zu beiden Wohnungen, Tür an Tür. Hinter der anderen Tür lebt eine Frau, sie ist zwischen vierzig und fünfzig. Sie leitet eine Kaufhaus-Filiale, geht morgens früh aus dem Haus und kommt erst nachts zurück. Sie bekommt nie Besuch. Ihr teilt euch den kleinen Flur hier. Die gemeinsame Tür muss immer abgeschlossen werden, immer, auch wenn du nur eine Minute rausgehst. Gegenüber, hinter dieser Tür, lebt eine Journalistin, die in Rente ist. Sie teilt sich den Flur mit einer Wohnung, die auch vermietet wird. Die junge Frau unten drunter dreht gern die Musik laut auf, ich kannte sie schon, als sie noch sooo - er zeigt es mit der Hand - klein war. Jetzt lebt sie allein. Die Eltern sind aufs Land gezogen. Auch sie teilt den Flur mit einer anderen Mietwohnung. Die Wohnungen wurden für Angestellte gebaut. Sie dienten der feinen Gesellschaft, die im Vorderhaus wohnte. Ja, das haben Sie schon gesagt. Du musst mich nicht siezen. Entschuldigen Sie. Hier im Flur steht ein Gefrierschrank, wahrscheinlich brauchst du ihn nicht, aber ich weiß sonst nicht, wohin damit. Den Kühlschrank in der Küche hat meine verstorbene Tante aus Deutschland mitgebracht, in den Sechzigern. Damals war er schon gebraucht, aber er ist besser als viele, die heutzutage hergestellt werden. Die Tante ist viel gereist, eine Dame von Welt, aber nun ja, sie hat nie geheiratet. Deshalb hat sie die Wohnung mir vererbt, dem ihr am nächsten stehenden Verwandten. Der Griff ist ein bisschen ungewöhnlich, aber so hier funktioniert es, er muss richtig einrasten, dann ist er zu, achte da gut drauf. Meine Tante war wie ein Hamster, hier war alles vollgestellt, aber ich konnte die Sachen nicht wegschmeißen, wie das eben ist, heb das auf, heb jenes auf … Dann gingen hier die Antiquitätenhänd*lerinnen ein und aus, für den Leuchter dort im Wohnzimmer haben sie mir gutes Geld angeboten, aber ich, ach ja, eine Kugel hat gefehlt, die habe ich einfach neu besorgt, und zwar für nicht wenig, ich kann einfach nichts verkaufen. Ich mag einfach nichts verkaufen. Meine Tante hat mir viel geholfen im Krieg, sie hat meiner Frau, die damals schon schwer krank war, Medikamente geschickt, paketeweise übers Rote Kreuz. Auch Geld hat sie uns geschickt, meine Tante war sparsam. Sie hat im diplomatischen Dienst gearbeitet, hat gut verdient. Und große Ersparnisse hinterlassen. Damals fuhren einige Leute mit Lkws nach Bosnien rüber, bis Sarajevo, sie haben fürs Rote Kreuz gearbeitet und die Pakete überbracht. Ich atme tief ein, alles wird gut, gleich, denke ich. Alles wird gut. Bis Ende Oktober werde ich einziehen, heute ist der 14. Oktober. Dass du einen Hund hast, stört mich nicht. Aber die Menschen binden sich immer so an Haustiere, und irgendwann sind sie weg, verstehst du. Das ist doch eine Qual. Du hast genug Steckdosen, in der Küche, und hier im Flur, nur leider haben die Leute, die vor dir hier gewohnt haben, sie herausgerissen, haben sie nicht gut behandelt. Also nicht daran zerren, schön ordentlich den Stecker ziehen. Ich hab sie alle repariert. Eine Stunde ist vergangen. Um drei muss ich bei der Polizei sein. Mein Handy explodiert vor lauter Nachrichten. Ich hätte es ausschalten sollen. Ich machs jetzt aus. Acht Jahre. Nein, ich habe hier nicht studiert. Wegen eines Jobs bin ich hergekommen und dann dageblieben. Ich konnte nicht mehr feststellen, woher die Vibration kam, aus meinem Körper oder aus dem Telefon. Polizei, Vernehmung. Ein sonniger Tag, 14. Oktober. Auf dem Tisch liegt eine riesige Schachtel Streichhölzer, 5 mal 3 cm. Darauf abgebildet: ein gezeichnetes Boot, eine Flasche und der Schriftzug PORTO CRUZ. Streichhölzer, die in keine Hosentasche passen. Nein danke, ich rauche nicht. Noch eine Lüge, denke ich ganz unaufgeregt. Alle lügen doch um durchzukommen. Aus Eigennutz. Aber das mache ich nicht, ich lüge ohne das geringste Eigeninteresse. Nur das, was alle am liebsten verschweigen würden, doch ich schweige nicht. Jetzt habe ich Lust auf eine Zigarette. Mit den Stoffrollos hier musst du ganz vorsichtig sein, sie funktionieren einwandfrei, pass mit der Schnur auf, mit der du den Stoff hoch und runter ziehst, drück nicht zu fest, quetsch sie nicht ein beim Schließen der inneren Fenster. Oder Gespenster, denke ich. Sie zerreißt leicht und dann ist es schwer, eine neue zu besorgen und anzubringen. Hier hat ein wunderbarer Junge gewohnt, Anfang der 2000er, direkt nachdem die Tante gestorben ist, Journalist, wirklich ein ganz wunderbarer Junge. Dann ist er irgendwo hingezogen, aber er hat lange bei uns gewohnt, es gefiel ihm hier. In zehn Minuten muss ich bei der Polizei sein. Vernehmung. Wird sie zurückziehen, werde doch nur ich aussagen. Bestimmt passiert etwas Schreckliches. Ich atme so tief wie möglich ein. Du musst tief einatmen, glaub mir, das hilft. Wir gingen zu Fuß. Es war Nacht. Eine der Silvesternächte, in denen gefeiert wurde. Dolores trug eine schwarze Jacke, im Revers etwas Rotes, eine Blume oder so, und ein blasses Gesicht. Tief durchatmen, tief durchatmen, gleich ist es vorbei. Ich konnte nicht wissen, dass ich in sie verliebt bin. Ein halbes Leben ist seitdem vergangen. Ich müsste jetzt los, endlich unterbreche ich die endlosen Antworten. Ja, die Kaution kann ich Ihnen vorbeibringen. Ja, morgen um eins, das passt mir gut. Ich habe Angst, die ganzen Nachrichten zu lesen. Ich tue es trotzdem, während ich vom zweiten Stock die halbrunde Treppe hinuntersteige. Für die Kaution wird’s schon reichen, es wird reichen, irgendwas wird sich ergeben, es ergibt sich immer was. Dolores ist nach Bosnien gefahren. Ich gehe allein zur Polizei. Keine einzige Nachricht von ihr, Hauptsache sie macht keinen Rückzieher, sie darf keinen Rückzieher machen, das wäre nicht gut. Ich allein, das reicht nicht. Für den 14. Oktober ist es zu warm. Ich schwitze zu viel. Sogar nach dem Training, in der Umkleide, sind meine T-Shirts trocken, sie riechen kein bisschen, duften sogar noch ein wenig nach Weichspüler. Jetzt stinke ich. Leiser Schweiß steigt mir in die Nase. Ein paar E-Mails, zwei davon dringend. Es wird schon reichen für die Kaution, heute Abend, heute Abend. Umzugskisten. Ich muss später noch in den Laden und Kartons holen. Nur das Nötigste. Wenn ich zweimal fahre, wird alles in ein Auto passen. Die Bücher nehme ich später mit. Ich brauche die Bücher nicht. Bettzeug, Jacken, Schuhe, zwei Töpfe. Mein Vater hat mir Töpfe gekauft, zwei kleine Töpfe, ein ganz kleiner und ein etwas größerer. Seit acht Jahren kein Kontakt mehr. Vernehmung. Und mir ist übel. Ich brauche einen großen Topf für Spaghetti. Kein Mensch kocht ja wohl für eine Person Spaghetti. Wird schon alles in ein Auto passen. Ich gehe jetzt allein und dann kommt Dolores aus Bosnien zurück. Der Inspektor meinte, sie werde zurückkommen und der Vorladung Folge leisten. Wichtig ist, dass wir sagen, was passiert ist. Etwas ist passiert. Was ist passiert. Es ist passiert. Mein Körper und das Telefon beben, die Vibration breitet sich von der Tasche nach oben aus, bis zu den Brüsten. Ungeschickter Umstand. Schon prasseln die Katastrophen auf mich nieder, eine nach der anderen. Was passiert ist, ist nicht gut. Es ist gut, dass es passiert ist. Für irgendetwas ist es immer gut. Ich könnte die Jacke ausziehen. Es ist so heiß hier. Ich habe ja noch ein Hemd und ein Unterhemd an. Wo ist eigentlich das eine weinrote Hemd. Ich habe es lange nicht gesehen. Es steht mir ziemlich gut, finde ich. Wo ist dieses Hemd? Das wäre jetzt genau richtig für dieses wechselhafte Wetter. Vielleicht überlegt er es sich noch einmal anders bis morgen. Vielleicht liest er die Schlagzeile und sagt, er habe ein besseres Angebot für seine Wohnung bekommen. Er wird das alles nicht verstehen, oder vielleicht doch, aber welche*r will schon Probleme. Für die Kaution wird es reichen, es wird reichen für die Kaution.

Hier endet die Allegrüntönewiese. Die Wiese ist ein Wurm im Einmachglas, das Heranwachsen staubig. Verkrustet, sagt Oma zu Elodi, wenn sich das Marmeladenglas nicht öffnen lässt. Vergoren, das Glas ist vom letzten Jahr, erklärt sie ihr. Die anderen Kinder sagen »Spielplatz«, doch Elodi sagt »Wiese«. Sie ist weder besonders lang noch breit und von einer Buchsbaum- oder Liguster hecke umgeben, so ist sie der ganzen Länge nach von der verkehrsreichen Landstraße abgeschirmt, die zur Annahmestelle führt, wo die Zuckerrüben für das Silo angeliefert werden. Bevor das hier ein Silo wurde, war es eine Mühle. Bevor hier Asphalt war, war es Erde.

Dragoslava Barzut:
Die Nähe verlieren.[1] Roman
Übersetzt aus dem Serbischen von Marie Alpermann
144 Seiten, Softcover 12,00 EUR
ISBN: 978-3-945644-26-3 Erschienen im Verlag w_orten & meer

Dragoslava Barzut ist eine serbische aktivistische Autor*in. Sie hat preisgekrönte Sammlungen mit eigenen Kurzgeschichten veröffentlicht. Ihre Prosa ist in zahlreichen Sammlungen und literarischen Journalen abgedruckt. Darüber hinaus hat sie eine Sammlung exjugoslawischer lesbischer Literatur herausgegeben sowie zeitgenössische Gedichte.
Barzut hat als Editorin der Internetplattform Labris (labris.org.rs) gearbeitet, einer Menschenrechtsorganisation gegen jegliche Formen von genderistischer Diskriminierung. Im Jahr 2015 hat sie die Organisation Da ze zna! mitgegründet, eine Online-Plattform zum sicheren und anonymen Anmelden und Dokumentieren von Gewalt gegen LGBTIQ*-Personen in Serbien. Barzut lebt in Belgrad. »Die Nähe verlieren« (Originaltitel: »Papirne disko kugle«) ist ihr erster, aufsehenerregender und preisgekrönter Roman.

Marie Alpermann hat Slawistik in Halle (Saale) studiert und übersetzt postjugoslawische Autor*innen, die sie im deutschsprachigen Raum bekannter machen will. Sie begeistert sich besonders für feministische, queere und nationalismuskritische Literatur aus der Region.

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