Die Linien laufen lassen

Radierungen von Dieter Goltzsche aus sechs Jahrzehnten in der Galerie der Berliner Graphikpresse

  • Klaus Hammer
  • Lesedauer: 3 Min.

»Teile von Etwas« heißt die Arbeit, die einer neuen Ausstellung des nunmehr 87-jährigen Dieter Goltzsche den Titel gibt - eine Ätzung auf Messing, aus dem vergangenen Jahr. Ungleichartige Formen, die wohl mal ein Ganzes gebildet haben, schweben im Raum und verlieren sich dann im Ungewissen. Sind dies Reste von Eigensinn, Zeugen emotionalen Protestes, Hoffnungspartikel oder Motivfragmente einer verklingenden Menschlichkeit? Seine Umwelt ist dem virtuosen Künstler, der einst an der Dresdener Akademie bei Hans Theo Richter und Max Schwimmer studierte und dann selbst zwei Jahrzehnte an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee lehrte, zum vornehmlichen Sujet avanciert. Sie lieferte ihm den Hintergrund, um Erfahrungen zwischen Unrast und Einsamkeit, visionärem Träumen und banaler Alltäglichkeit tagebuchartig einzufangen.

»Die Linien laufen lassen«, so lautet ein Credo von Goltzsche. Die Formenwelt entfaltet sich aus dem Wechselspiel von Anpassung und Kontrast, aus assoziativen Zuordnungen. Der Improvisation folgt eine zunehmende Begrenzung in Form- und Farbentscheidung. Das Flüssige gerinnt zum Festen, das Diffuse zum Geformten, und dieses wiederum tendiert zur Auflösung. Der Künstler greift ein, in spielerischer Freiheit, in der Lust am poetischen Fabulieren, damit die Bildsituation, die immer auch die seine ist, offen wird, offen bleibt. Das Fragmentarische, das non finito, das Momenthafte zeichnet Goltzsches Arbeiten im Grenzbereich zwischen Gegenständlichem und Abstraktem aus. Der Vielansichtigkeit der Welt, die das jeweils eine, stets unvollkommene oder »falsche« Weltbild abgelöst hat, entspricht die Vielfalt des offenen Experiments.

Der von Sigrid Walther erarbeitete dritte Band der Radierungen von Goltzsche, der Arbeiten aus den 60er Jahren bis zur Gegenwart umfasst, liegt zeitgleich zur repräsentativen Auswahl in der Galerie der Berliner Graphikpresse vor. Der Künstler bannt die gegenständliche Welt in Chiffren und Hinweisen, die den deutungswilligen Betrachter mitunter in wahre Labyrinthe führen. Die Betonung liegt ebenso sehr auf der Beschreibung des problematischen Ichs als auch auf einer Hommage an die Weite, die geistige Transparenz. Es lassen sich örtliche Szenerien, Landschaften wie traumbildhafte Welten, literarische Reminiszenzen, Figürliches und Gestisches ausmachen. Den »einen« Text oder die »eine« Erzählung gibt es nicht. Der perspektivische Raum baut sich aus Ebenen auf, die sich überschneiden und durchdringen, eigene Schichten bilden, die nicht mehr im Widerspruch zur Fläche des Bildes stehen, sondern sich in ihr auflösen. Durch das Gefälle der Farbtemperatur und Schwarz-Weiß-Kontrast wird im Auge ein Reiz ausgelöst, Bewegung zu konstatieren, obwohl in Wirklichkeit alles unbeweglich an seinem Platz verharrt. So experimentiert der Künstler weiter mit einer auch vom »Kientopp« her bekannten Erfahrung, dass mehrere mit Unterbrechungen dargebotene Bewegungsphasen visuell zu einem tatsächlichen Ablauf zusammengesetzt werden.

Formen assoziieren sich in Goltzsches Arbeiten zu Symbolen, die beim Betrachter den Wunsch auslösen, in nicht zu enträtselnde Geheimnisse einzudringen. Die Komplexität der Betrachtung besteht eben darin, dass sie sich zugleich schauend und denkend vollziehen muss. Und immer wieder bestimmt das Interesse an der Figur, die Neugier dem Mitmenschen und dem Alltag gegenüber seine »Erlebniskunst«, wie Dieter Goltzsche sie nennt selbst seine Arbeiten bezeichnet. Es lohnt sich, sich davon in dieser Ausstellung selbst zu überzeugen.

»Dieter Goltzsche - Teile von Etwas«, bis 11. Februar, Galerie der Berliner Graphikpresse, Silvio-Meier-Str. 6, Berlin-Friedrichshain. Mi bis Fr 13 bis 18.30 Uhr, Sa 11 bis 15 Uhr. Sigrid Walther (Hg.): Dieter Goltzsche Werkverzeichnis der Radierungen 2000-2021, Sandstein-Verlag, 48 €.

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