Südamerika schaut auf Chile und Kolumbien

Der Wahlsieg des linken Reformers Gabriel Boric gibt Ex-Guerillero Gustavo Petro in Bogotá Rückenwind

  • Martin Ling
  • Lesedauer: 4 Min.

Hugo Chávez und Gerhard Schröder, Gabriel Boric und Olaf Scholz. 1998 wurden Chávez und Schröder an die Regierung in Venezuela und Deutschland gewählt, 2021 Boric und Scholz an die Regierung in Chile und Deutschland. Chávez’ Sieg läutete in Südamerika den Beginn eines linken Jahrzehnts ein, 2021 könnte der Beginn eines weiteren sein. 2022 stehen dafür wegweisende Wahlen an. In Brasilien liegt Ex-Präsident Lula, der von 2003 bis 2011 schon an der Staatsspitze stand, vor den Präsidentschaftswahlen im Herbst in Umfragen weit vorne.

Dasselbe gilt in Kolumbien für den linken Ex-Guerillero Gustavo Petro. Im strukturell rechtskonservativen Kolumbien wäre es eine Zäsur, wenn er im Mai oder bei einer wahrscheinlichen Stichwahl im Juni seine derzeitige klare Führung in einen Sieg ummünzen könnte. Der letzte linke Präsident Kolumbiens, der dieses Etikett ernsthaft verdiente, war der linksliberale Jorge Eliécer Gaitán. Der wurde am 9.  April 1948 auf offener Straße ermordet. Es folgte die bis heute traumatisch wirkende Phase der Violencia (Gewalt), des blutigen Konfliktes zwischen der liberalen und konservativen Partei, dem bis 1958 rund 200 000 Menschen zum Opfer fielen – Ausgangspunkt des jahrzehntelangen bewaffneten internen Konflikt mit den Guerillas, von denen es in Kolumbien zeitweise fünf parallel gab. Mit der größten, der FARC wurde 2016 ein Friedensabkommen geschlossen. Doch Gewalt gegen soziale Aktivisten ist in Kolumbien weiter an der Tagesordnung, die extrem ungleiche Landverteilung blieb unangetastet. All das gibt Petro Rückenwind – ob genug, bleibt offen.

Der Autor
Martin Ling ist als Redakteur beim »nd« für Lateinamerika und Afrika zuständig.

Ein Sieg für Petro in Kolumbien 2022 würde die Verhältnisse zum Tanzen bringen. Der erste Ex-Guerillero an der Staatsspitze wäre er freilich nicht. Das schafften 2011 schon Pepe Mujica in Uruguay und Dilma Rousseff in Brasilien. Mujica und Rousseff stehen in der langen Reihe der linken Präsidenten und Präsidentinnen, die nach dem Sieg von Chávez 1998 nach und nach in die Präsidentenpaläste Südamerikas einzogen – von Argentinien mit den Kirchners – Néstor 2003 und Cristina 2007 – über Uruguay mit Tabaré Vázquez (2005), 2006 Michelle Bachelet in Chile und Evo Morales in Bolivien bis hin zu Rafael Correa in Ecuador 2007. Der letzte in dieser Reihe der südamerikanischen Linkswende war der Priester Fernando Lugo 2008 in Paraguay, der 2012 durch einen parlamentarischen Putsch abgesetzt wurde.

Der emotionale Höhepunkt dieser Linkswende war das Treffen in Mar del Plata 2005, bei dem die südamerikanischen Staatschefs den Traum einer gesamtamerikanischen Freihandelszone von George Bush senior nach 15 Jahren Verhandlungen beerdigten – mit Chávez, Néstor Kirchner und Lula als Protagonisten und im Beisein von Diego Maradona, der beim Alternativen Gipfel den USA die Leviten las.

Das linke lateinamerikanische Jahrzehnt ging mit großen Erfolgen bei der Armutsbekämpfung einher – selbst nach Angaben der linker Vorlieben unverdächtigen Weltbank stiegen zwischen 2003 und 2011 rund 50 Millionen Menschen in die untere Mittelschicht auf. Wenn nicht bereits mit dem Tod von Hugo Chávez 2013, so kam es doch spätestens 2015 mit dem Sieg des neoliberalen Mauricio Macri in Argentinien und dem fragwürdigen Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff 2016 in Brasilien zu seinem Ende. In Brasilien übernahm 2019 der rechtsradikale Jair Bolsonaro die Macht, in Chile 2018 zum zweiten Mal der rechte Sebastián Piñera.

Eine neue, rechte Hegemonie, gar ein neues verlorenes Jahrzehnt wie in den 90ern konnte die südamerikanische Rechte derweil nicht begründen. Und dass mit Gabriel Boric ausgerechnet im neoliberalen Musterland Chile die Weichen erstmals seit dem Sieg von Allende 1971 deutlich auf links gestellt wurden, macht Hoffnung. Fällt die rechte Bastion Kolumbien nach Jahrzehnten, wäre dies ein weiteres Fanal an den Urnen. Eine notwendige, wiewohl nicht hinreichende Bedingung für ein neues linkes Jahrzehnt in Südamerika. Denn die Frage, wie Südamerika sich vom Rohstoff-Extraktivismus emanzipieren kann, der über die Preisentwicklung Auf- und Abschwung der Linksregierungen maßgeblich beeinflusst hat, bleibt davon unbenommen. Die komplexe Antwort darauf steht weiter aus.

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