nd-aktuell.de / 14.01.2022 / Brandenburg / Seite 11

Verfassungsschutz verharmlost Corona-Versammlungen

Bund der Kriminalbeamten kritisiert Geheimdienst für die Einschätzung, Extremisten seien bei den Protesten in der Minderheit

Andreas Fritsche

Auch in Brandenburg wird vor allem montags gegen die Corona-Maßnahmen protestiert. Insgesamt etwa 26 000 Menschen gingen zuletzt an 76 verschiedenen Orten im Land auf die Straße. Die Gegendemonstranten werden dabei mitgezählt. Nur vor einzelnen Störungen wusste in der vergangenen Woche Innenstaatssekretär Uwe Schüler. Der Großteil der Demonstranten entstamme dem »bürgerlichen Spektrum«, berichtete er. Man könne nicht sagen, dass es vor allem Rechte seien. Verfassungsschutzchef Jörg Müller sekundierte: »Die Extremisten sind in der absoluten Minderzahl.«[1]

Der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) zeigte sich jetzt irritiert über diese Einschätzung. Mittlerweile lese man täglich von Angriffen auf Polizisten bei den Versammlungen, »die zum Teil verharmlosend als ›Spaziergänge‹ deklariert werden«, erklärte am Donnerstag die BDK-Landesvorsitzende Anja Penßler-Beyer. Ausgerechnet der Verfassungsschutz verharmlose solche Angriffe auf Kollegen, dabei seien die Attacken »immer auch Angriffe auf unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung«. Teile der Protestbewegung seien hochgradig demokratiefeindlich und darauf aus, die innere Sicherheit zu gefährden, schätzte Penßler-Beyer ein. So würden Eskalationen provoziert und schwere Verletzungen von Polizisten billigend in Kauf genommen.

Die BDK-Landeschefin wies auf einen im April 2021 vom Bundesamt für Verfassungsschutz eigens eingeführten »Phänomenbereich« hin. Dieser ermögliche es, die sich zunehmend radikalisierenden und extremistischen Bestrebungen innerhalb der Corona-Versammlungen zu kategorisieren und zu untersuchen. »Vor diesem Hintergrund wirken die jüngsten Aussagen des brandenburgischen Verfassungsschutzes äußerst befremdlich«, meinte Penßler-Beyer. »Weder gleichbleibende Teilnehmerzahlen noch die vom Innenministerium präsentierten Zahlen sind geeignet, darüber Aufschluss zu geben, wie stark ein Radikalisierungsprozess in Brandenburg bereits fortgeschritten ist.«

Hilfreich wäre dagegen zu erfahren, wie viele Polizisten in den letzten Monaten bei Corona-Versammlungen verletzt wurden und zu wie vielen Anzeigen es wegen Widerstands gekommen sei. Diese Zahlen habe das Innenministerium bisher leider nicht vorgelegt. Tatsache sei, dass vor Ort ein gesteigertes Aggressionspotenzial festzustellen ist.

In Potsdam hatte die Polizei für den vergangenen Montag einen unangemeldeten Lichterspaziergang verboten, weil nach den bisherigen Erfahrungen davon auszugehen war, dass sich die Teilnehmer nicht an die Maskenpflicht halten würden. Menschen, die sich dennoch am Brandenburger Tor ansammelten, wurden mit Hinweisschildern und Lautsprecherdurchsagen auf das Verbot hingewiesen. Beamte nahmen die Personalien von 128 Menschen auf, die sich trotz Verbots zu einem Aufzug formierten. In Bernau hingegen ließ die Polizei die Protestierenden trotz Verstoßes gegen die Maskenpflicht gewähren - so wie auch andernorts. Sie habe nicht die Kräfte, alle Versammlungen aufzulösen.

Landesweit waren am Montag 1000 Beamte bei den Corona-Protesten im Einsatz. Brandenburg beschäftigt insgesamt nur rund 8000 Polizisten, die in Schichten arbeiten und auch anders zu tun haben.

»Straftaten unterliegen seit jeher einer gewissen Dynamik, und entsprechend müssen wir reagieren«, sagte Penßler-Beyer. »Das Innenministerium scheint hier aber ein über die Dienstzeit hinausgehendes, fast schon ehrenamtliches Engagement von uns zu erwarten«, beschwerte sie sich über die Belastungen durch die Corona-Proteste. Die Gewerkschafterin bat Innenminister Michael Stübgen (CDU), Maßnahmen zu ergreifen. Er solle ermöglichen, dass die Polizei »lagegerecht auf die jeweiligen Situationen reagieren« könne. Dass der Verfassungsschutz den Radikalisierungsprozess verharmlose, sieht Penßler-Beyer mit Sorge: »Hier erwarte ich eine realistischere Einschätzung.«

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1160175.pandemie-buerger-auf-dem-dritten-weg.html