nd-aktuell.de / 15.01.2022 / Reise / Seite 31

Eine Insel will vergessen

Im Januar 2012 lief die »Costa Concordia« vor der toskanischen Insel Giglio auf ein Riff. Das Wrack ist weg, aber die Tragödie prägt die Ferieninsel bis heute

Hans-Werner Rodrian

Bis zum 13. Januar 2012[1] war die toskanische Insel Giglio ein Urlaubsgeheimtipp für Taucher und Ruhe Suchende. Dann fuhr in der Nacht ein verrückter Kapitän mit seinem 4000-Personen-Schiff viel zu nah vor der Küste entlang, blieb an einem eigentlich allseits bekannten Felsen hängen und verursachte das größte Unglück der modernen Kreuzschifffahrt. Seitdem ist das wenige Kilometer lange Inselchen wohl für immer mit dem Schiffsunglück verbunden. Die Einheimischen freilich sehnen sich nach nichts so sehr wie danach, endlich wieder ein normales Ferienziel zu sein ...

Heiligtum der Wale und Delfine

Im malerischen Hafen von Giglio drehen die Tagesausflügler am Postkartenständer. Sie suchen das Motiv, dessentwegen viele immer noch vom Festland her übersetzen: die havarierte »Costa Concordia« mit Schlagseite. Aber das Bildmotiv gibt es nicht - der Bürgermeister hat es verboten und alle Insulaner halten sich daran.

Zehn Jahre nach dem Unglück erinnert außer einer Gedenkplatte am Kai äußerlich nichts mehr an die Katastrophe. Möwen schwimmen an der Stelle, wo von 2012 bis 2014 das gewaltige Wrack lag. Und auch die Gigliesen wollen endlich nicht mehr auf die Insel der Katastrophe reduziert werden, sondern wieder wie früher das Ferieninselchen mit dem saubersten Wasser Italiens sein. »Santuario dei cetacei« [2]- das Heiligtum der Wale und Delfine: Das war früher der Beiname der Lilieninsel vor der toskanischen Küste, die mitten in einem Meeresnationalpark liegt.

Giglios damaliger wie heutiger Bürgermeister Sergio Ortelli zeigt von seinem Büro am Hafen in Richtung des Unglücksfelsens: »Hier hat man erst kürzlich wieder Delfine gesehen. Sie zeigen, dass die Umwelt intakt ist.« Noch vor einigen Jahren spielte Ortelli mit dem Gedanken, im Burgdorf Giglio Castello ein Museum der Bergung des Wracks zu eröffnen. Doch längst will auf der Insel niemand mehr erinnert werden.

Dabei würden die Geschehnisse gleich für mehrere Spielfilme reichen: Da war zunächst die nächtliche Bergung von 4000 Menschen, anschließend der gefährliche Bau eines Unterwasser-Stahlgerüsts gegen das drohende Abrutschen des Riesenschiffs, dann die dramatische Aufrichtung des Kolosses vor Kamerateams aus aller Welt und schließlich der Abschleppvorgang im Juli 2014 nach Genua, wo die »Costa Concordia« bis 2017 zerlegt und verschrottet wurde.

Erst 2017 war sämtlicher Schrott weg

Ebenso lange dauerte die vollständige Entfernung der Bergungsgerätschaften auf der Insel und die Säuberung des Meeresbodens; erst 2017 waren diese Arbeiten endgültig abgeschlossen. Insgesamt zahlten die Versicherungen rund 1,5 Milliarden Euro, um den Schaden zu beheben. Immerhin war das Schiff in einem Nationalpark havariert.

Mittlerweile geht das Leben in Giglio Porto wieder seinen geruhsamen Gang. Ein halbes Dutzend Mal am Tag - im Sommer öfter - legt eine der beiden Fähren vom Festland her an. Dann gehen die Jalousien an den pastellfarbenen Hafenfassaden hoch, die Cafés heizen in Erwartung von Kundschaft die Espressomaschinen an und der Busfahrer fährt den kleinen Inselbus schon mal rückwärts so nah wie möglich an den Kai.

Im Winter spazieren die Tagesausflügler die Hafenpromenade nur einmal rauf und runter und setzen sich dann auf ein Glas Inselwein in eines der Cafés, um die Rückfahrt abzuwarten. Im Sommer haben es die meisten dagegen eilig, den direkt mit der Fähre abgestimmten Inselbus zu besteigen, der auf der einzigen schmalen Straße erst in steilen Serpentinen vom Hafen hinauf zum Burgdorf Castello und dann auf der anderen Seite wieder hinunter zur Strandbucht Giglio Campese keucht.

In der Hochsaison noch freie Zimmer

Giglio Campese ist so etwas wie das Strandurlaubszentrum der kleinen Insel. In der bilderbuchhübschen Bucht mit dem putzigen mittelalterlichen Wehrturm warten ein paar Pensionen, der panoramareiche Campingplatz und das größte Hotel der Insel. Groß ist dabei allerdings relativ: Das Albergo Campese hat nicht mal 50 Zimmer. Auch zur Hochsaison waren in den vergangenen Jahren längst nicht alle ausgebucht, bedauert Besitzer Stefano Feri. Da halfen weder moderate Preise noch der Sandstrand bis vor die Hoteltür oder die purpurnen Sonnenuntergänge.

Ferien auf Giglio sind Ferien in einer großen Familie, der Urlauber ist gleich ein Teil davon. Und so wird man ganz selbstverständlich mitgenommen zu einer Wanderung und steht bald 400 Meter höher vor einem gewaltigen Steinmonument. Es entpuppt sich als eine Art toskanisches Stonehenge. Cote Ciombella heißt der Megalith in Panoramalage. Und wenn die Naturschützer mal wieder die Brombeeren zurückgeschnitten haben, dann sind sie auch wieder alle zu sehen: der grimmig dreinschauende Löwe, die steinerne Schildkröte und der Skarabäus-Glückskäfer aus der Steinzeit.

Giglio ist auch ein Wanderidyll

Nicht weniger als 24 Wander- und Mountainbikewege besitzt die kaum 15 Kilometer lange Insel, die Nationalparkführerin Marina Aldi kennt sie alle. Einer ihrer Lieblingspfade führt zwischen Ginster und Rosmarinbüschen zur romantischen Cala degli Alberi. 150 Stufen über dem Meer betreiben dort der 76-jährige Ghigo und seine Frau Barbara das Hotel »Pardini’s Hermitage«. Zwischen großen Pinien und runden Granitfelsen ist man in einfachsten Zimmern bei Biokost, klassischer Musik und Töpferkursen entweder hellauf begeistert oder ganz schnell wieder abgereist - was aber auch nicht einfach ist, denn zu dem Hotel kommt man nur zu Fuß oder per Boot.

Ein weiteres Lieblingsziel von Marina Aldi ist das alte Burgdorf Giglio Castello. 500 Meter über dem gigliesischen Meer, wurde es gerade wieder unter die »Borghi più belli«, die schönsten Dörfer Italiens, gewählt. Eingefasst von einer gewaltigen Mauer aus der Römerzeit drängt sich der uralte Ortskern auf der Bergkuppe. Treppen über Treppen führen zwischen den windschiefen Häusern hindurch. Morsche Holztüren schillern in kräftigem Rot, Gelb und Blau.

Über allem wohnt Elizabeth Nanni. Der Halbamerikanerin mit römischem Papa gehört eine Hälfte des Bergfrieds, der höchste bewohnte Punkt von Giglio. Dort vermietet sie vier Zimmer, eins davon war bereits im neunten Jahrhundert eine Mönchszelle. Im lauschigen Burggarten unter Kirsch- und Feigenbäumen hat sie sich mit einem hellblau angestrichenen Oldtimer-Motorrad und anderer Kunst eingerichtet.

Die typische Inselruhe

Nanni liebt ihre Katzen und kennt die schönsten Badebuchten und verschwiegensten Tauchgründe. Morgens beim Frühstück macht sie Lust auf eine Tour zum einsamen Leuchtturm oder zu den steilen Weinbergen des Ansonaco-Weins, der nur noch auf der Insel wächst.

Aber vor allem vermittelt sie dem Besucher dieses spezielle Inselgefühl: »Es braucht zwei oder drei Tage, um die Festlandhektik hinter sich zu lassen«, weiß sie. »Nehmen Sie sich diese Zeit. Bringen Sie ein paar gute Bücher mit und lassen Sie Ihren Stress auf dem Festland.« Zu viel in einen Urlaubstag hineinpacken zu wollen, lohne sich ja doch nicht. »Freuen Sie sich einfach, dass Sie da sind. Und vergessen Sie, dass da unten mal ein Schiff lag.«

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/216005.geh-an-bord-verdammt.html?sstr=giglio|costa
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/216278.gefahr-im-heiligtum-der-wale.html?sstr=giglio|costa