Hysterie in Hochgeschwindigkeit

In seinem neuen Buch »Kapital und Ressentiment« gelingt Joseph Vogl eine beeindruckende Analyse der kapitalistischen Gegenwart

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 7 Min.

Anmerkungen und Literaturverzeichnis auf über 40 eng bedruckten Seiten - das Buch glänzt mit theoretischem Niveau. Doch wie groß kann seine Reichweite sein? Eher verstärkt sich nämlich momentan der Eindruck, dass Gesellschaftswissenschaft und öffentliche Debatte sich voneinander entfernen: Journalistinnen und Journalisten geben im täglichen Arbeitsdruck Meinungen wieder, ohne sich tiefer in deren Voraussetzungen einzuarbeiten und die Fachwelt bleibt weitgehend unter sich.

Als »kurze Theorie der Gegenwart« dürfte Joseph Vogls Buch »Kapital und Ressentiment« dabei unverzichtbar für jede öffentliche Äußerung zur derzeitigen Lage sein. Tiefgründig in seinen Analysen, detailliert hinsichtlich theoretischer und historischer Bezüge und entschieden in seinen Schlussfolgerungen hat der Autor einer breiteren Verständlichkeit allerdings, allein schon sprachlich, Hürden gesetzt. Er möge mir verzeihen, dass ich hier der Kürze und allgemeinen Verständlichkeit wegen etwas vereinfache.

Vogl ist Professor für Neuere deutsche Literatur, Literatur- und Kulturwissenschaft/Medien an der Humboldt-Universität Berlin und geht in seinem Buch der Frage nach, »wie sich der Aufbau neuer unternehmerischer Machtformen im digitalen Kapitalismus mit der Aushöhlung demokratischer Prozeduren und Institutionen kombiniert«. Das Vierteljahrhundert nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs - genau gesagt, die 1950er und 1960er Jahre - nennt der Autor ein »versunkenes Wirtschaftsidyll«. Er zeigt die Entwicklung des globalen Kapitalismus auf, in der sich der industrielle Anteil am Gesamtergebnis unternehmerischer Renditen seit den 1970er Jahren immer weiter reduziert und von der Profitquote der Finanz-, Versicherungs- und Immobiliengeschäfte längst überholt wurde.

Geldschöpfung, um Geld zu verdienen: Darum geht es auch in Don DeLillos Roman »Cosmopolis«, auf den ich noch mehrmals eingehen werde. Hier hat der steinreiche Vermögensverwalter Eric Parker zu extrem niedrigen Zinssätzen Yen geliehen, um in großem Stil mit Aktien zu spekulieren. Wider Erwarten aber steigt der Kurs der japanischen Währung rasant. Während Parker in seiner weißen Stretchlimousine durch New York fährt, hat er auf mehreren Bildschirmen die Bewegung von Zahlenreihen im Blick - »das Leuchten des Cyberkapitals«, wie DeLillo es beschreibt - und kann sich bis zum Schluss nicht entschließen, seine Strategie zu ändern. Das würde einem heutigen Spekulanten allerdings kaum mehr passieren, weil finanzielle Transaktionen längst durch künstliche Intelligenz unterstützt sind.

Überstaatliche Finanzpolitik

In »Kapital und Ressentiment« macht Vogl plausibel, wie eng der heutige Finanzkapitalismus mit der Digitalisierung verbunden ist und sich dabei als »eine transgouvernementale Handlungsmacht« installiert. Von politischer und ökonomischer Souveränität einzelner Staaten könne nur noch bedingt die Rede sein. Interessant ist hier folgende Beobachtung Vogls: »Die sogenannte Eurogruppe etwa - bestehend aus den Finanzministern der Euro-Staaten, dem EZB-Präsidenten, dem für Wirtschaft und Finanzen zuständigen EU-Kommissar und einem Vertreter bzw. einer Vertreterin des IMF - (…) ist keiner regulären europäischen Institution samt Parlament rechenschaftspflichtig.«

Demokratische Prozeduren sind dem Finanzmarkt immer wieder regelrecht hinderlich. Dass finanzökonomische Risiken auf Staaten, Sozialleistungen und Bevölkerungen abgewälzt werden, gehört zum System. Auch die stürmische Entwicklung der Informationstechnologie steht damit im Zusammenhang. Dass wir von den schnellen Informationen aus dem Internet profitieren und uns als Kunden von Internetfirmen gefragt fühlen (der Bedeutung von Plattformen gilt eine ganzes Kapitel), ist nicht nur im Interesse der großen Tech-Unternehmen, sondern auch des Finanzkapitals.

Das Lebensgefühl der Finanzmarktakteure beschreibt treffend wieder Don DeLillo: Eric Parker lebt in einem manischen Zustand, den er genießt, der ihn andererseits nicht schlafen lässt. Er lebt vom Kick, vom Nervenkitzel - und könnte womöglich daran letztlich sterben. Dabei weiß er schon nicht einmal mehr, was er mit seinem Geld machen soll. Dies hat auf der Höhe seines Reichtums aber allen Reiz für Parker verloren, was zählt, ist nur noch das Casinogefühl. Zwar wurden mathematische Modelle zur Gewinnperspektive und anderem entwickelt, aber der Börsenhandel bleibt ein Wetten auf Künftiges, was wohl seine Faszination ausmacht.

Wobei, so Joseph Vogls treffender Vergleich, »das Wetten auf künftige Kurzverläufe wohl dem Spiel eines Schimpansen gleicht, der mit verbundenen Augen Dartpfeile auf den Börsenteil einer Zeitung wirft; je effizienter die Märkte, umso zufälliger die dort generierten Oszillationen.« Doch könne sich so auch eine Art Gleichgewicht herstellen, »indem sich zufällige Schwankungen um einen Mittelwert herum anordnen«. Der Markt reagiert auf Informationen, die keinen irgendwie realen »Wert der Dinge« betreffen, sondern Wertschätzungen sind, die sich wiederum aufgrund von Meinungen formieren. Meinungen über Meinungen - funktioniert so nicht auch die Medienindustrie?

Vogl spricht vom Kapitalismus als einem »Wahrheitsspiel«, in dem Wissen nur noch Information bedeutet und letztlich delegitimiert wird: »Inmitten einer informationellen Explosion hat sich eine Ausweitung von Ignoranzzonen eingestellt.« Ja, »das Nichtwissen der Subjekte im Aktionsfeld des Marktes« scheint sogar »wünschenswert« zu sein, »es muss aktiv hergestellt und konserviert werden«. Ich habe zu diesem Buch gegriffen, weil mich der Begriff Ressentiment interessiert: der (noch häufig) heimliche Groll in dieser Gesellschaft, entstehend aus einem Gefühl der Ohnmacht, das sich in Corona-Zeiten noch verstärkt. In dem Sinne ist auch der Finanzkapitalismus eine Zumutung - allein schon dadurch, dass er sich für die Masse der Bevölkerung dem Verständnis entzieht.

Ohnmacht und Reichtum

Ressentiment wurzelt in Entfremdung, und die trifft nicht nur die vielen, für die sich das rechtliche Gleichheitsversprechen in der ökonomischen Realität nicht erfüllt. Sondern es trifft auch jene Akteure, die, selbst von ihrer hohen Warte aus, die Geister längst nicht mehr beherrschen, die sie gerufen haben. So hat sich DeLillos Eric Parker extra eine Himmelskuppel in seinen Wolkenkratzer bauen lassen, um zur Ruhe zu kommen, was ihm aber nicht gelingt. Wellness wird zum Zauberwort, aber nur für die, die es sich leisten können. Und das werden immer weniger: »2007 besaßen zehn Prozent der reichsten Haushalte zwei Drittel des gesamten privaten Nettovermögens«, schreibt Joseph Vogl, aber »die gesamte untere Hälfte nur 1,4 Prozent.« Angesichts dessen möchte ich, wieder einmal, den Soziologen Wolfgang Engler zitieren: »In allen vom Neoliberalismus umgegrabenen Gesellschaften herrscht massenweise Wut.«

Es ist interessant, wie der Finanzkapitalismus mit dieser Wut umgeht. Wenn es Not tut, natürlich mit Repression: In ihrer harten Form von Polizeigewalt, Gefängnis oder Berufsverboten - aber auch die repressive Toleranz hat zum Teil eine solche Verfeinerung erfahren, dass sie fast gänzlich unsichtbar geworden ist. Mögliche Protestpotenziale sind zersplittert in »digitale Neogemeinschaften«, wie Joseph Vogl sie nennt, die ganz vom Meinungshaften leben und sich selbst darin genügen, mit anderen Meinungen im Clinch zu liegen. In dieser »Feindseligkeit aller gegen alle« sieht Vogl »nicht nur ein erfolgreiches Geschäftsmodell«, sondern auch die Basis für ein fatales »Gemeinschaftsgefühl«, welches »das Ferment einer neuen Vorkriegszeit liefern« könnte.

Der Markt als Integrationsmaschine

Wieder zu DeLillo: Während die weiße Limousine im Schritttempo durch New York rollt, empfängt Eric Parker nacheinander seinen Technologiechef, seine Währungsanalystin, seinen Arzt und schließlich seine »Oberste Theoretikerin«, eine verschmitzte, kleine Frau, mit der er über den Sinn seines Lebens und Wünschens reden kann. Ihr dialektischer Scharfblick hat mich verfolgt, seit ich den Roman 2003 erstmals gelesen habe. »Sie wissen, was der Kapitalismus hervorbringt«, sagt sie, als das Auto von revoltierenden Jugendlichen mit Farbe besprüht und zum Schaukeln gebracht wird: »Seine eigenen Totengräber, laut Marx und Engels.« - »Aber das hier sind nicht die Totengräber. Das ist der freie Markt selbst.« Als die Revolte auf den Turm einer Investmentbank übergreift und eine Bombe detoniert, begreift auch Eric Parker, wie theatralisch das Ganze ist: »Zwischen den Demonstranten und dem Staat lag ein Schatten von Geschäftlichem. Der Protest war eine Form systemischer Hygiene, im Effekt dann reinigend und schmierend. Er attestierte der Kultur des Marktes ein weiteres, ein zehntausendstes Mal innovative Brillanz und die Fähigkeit, sich selbst (…) umzugestalten und dabei alles ringsum in sich aufzunehmen.«

Geradezu unangreifbar erscheint der Finanz- und Informationskapitalismus auch bei Joseph Vogl. Man zweifelt beim Lesen, ob sich durch den Widerstreit der Meinungen, den er als Protestform beschreibt, etwas ändern lässt. Eher wohl durch die Kraft eines Faktischen, das wir noch nicht kennen. »Sie wenden Mathematik und andere Disziplinen an, okay«, sagt die kleine Frau in DeLillos Roman. »Aber letztlich haben Sie es mit einem System zu tun, das außer Kontrolle ist. Hysterie in Hochgeschwindigkeit ...«

Joseph Vogl: Kapital und Ressentiment. Eine kurze Theorie der Gegenwart. C. H. Beck, 224 S., geb., 18 €.

Don DeLillo: Cosmopolis. Roman. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Kiepenheuer & Witsch, 208 S., geb., 17 €.

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