nd-aktuell.de / 27.01.2022 / Politik

Im Zeitalter der Haarlosigkeit

Es ist nicht leicht, gegen die Norm des haarlosen Frauenkörpers anzukämpfen, weiß Körperhaaraktivistin Anna C. Paul. Aber es ist möglich.

Birthe Berghöfer
Körperbehaarung: Im Zeitalter der Haarlosigkeit

Jedes Mal, wenn ich dusche, greife ich zum Rasierer und entferne die Stoppeln unter den Achseln, die seit der letzten Rasur nachgewachsen sind. Gehöre ich damit zu einer haarlosen Mehrheit?

(lacht) Mein Eindruck ist, dass das die meisten Frauen machen.

Ist das problematisch?

Die Enthaarung an sich nicht. Viele erleben jedoch, dass diese Haarlosigkeit von ihnen erwartet wird und wenn sie sich so unter Druck gesetzt fühlen, dass sich die Frage »Rasieren oder nicht rasieren?« gar nicht mehr stellt, weil die Antwort eh feststeht, dann wird es problematisch. Zum Beispiel hat mir eine 34-Jährige geschrieben, dass ihr ein Typ nach dem One-Night-Stand sagte, sie solle das nächste Mal bitte rasiert sein. Als gäbe es einen selbstverständlichen Anspruch als Mann auf einen haarfreien Körper der Frau. Das geht natürlich nicht und sollte diskutiert werden.

Du sagst, wir befinden uns in einem Zeitalter der Haarlosigkeit. Was meinst Du damit?

Darunter verstehe ich den Zeitraum, in dem sich die Glorifizierung von haarlosen Körpern etabliert hat. Ich beziehe das hauptsächlich auf weiblich gelesene Körper, sehe diese Normvorstellung aber zunehmend auch bei anderen Geschlechtern.

Körperbehaarung: Im Zeitalter der Haarlosigkeit

Angefangen hat das Zeitalter der Haarlosigkeit in Deutschland Ende des 20. Jahrhunderts und erreichte, laut der Soziologin Ada Borkenhagen, den Höhepunkt um 2009. Zu der Zeit wurde der haarlose Frauenkörper als Standard in allen Medien verbreitet. Haare durften weder auf der Oberlippe sein, noch unter den Achseln, auf der Vulva und an den Beinen sowieso nicht. Um 2009 herum war es also am verpöntesten, sich nicht zu rasieren. Seitdem entspannt es sich etwas und mittlerweile entstehen Gegenbewegungen, die diese Haarlosigkeit hinterfragen. Dennoch ist sie weiter die Norm.

Häufig wird Haarlosigkeit mit Hygiene begründet. Ist das ein Trugschluss?

Darüber gibt es unterschiedliche Sichtweisen. Zum Beispiel schützen Haare im Bereich der Vulva davor, dass Bakterien schnell eindringen können. Und rasierte Stellen können durch kleine Verletzungen auf der Haut auch dazu führen, dass sich Bakterien schneller einnisten. Auf der anderen Seite wurde Haarentfernung zumindest früher oft aus Hygienegründen praktiziert. Damit sich in den Haaren keine Parasiten einnisten können. Das ist für uns sicher nicht mehr relevant, aber in manchen Kulturkreisen ist dieser Gedanke nach wie vor stark verankert. Eine Ghanaerin hat mir geschrieben, dass Haarentfernung aus hygienischen Grünen bei ihr im Kulturkreis ein großer Faktor sei. Zumindest in ihrer Generation werde Körperbehaarung als etwas Schönes betrachtet, der hygienische Aspekt habe allerdings den größeren Stellenwert.

Körperbehaarung: Im Zeitalter der Haarlosigkeit

Hältst Du es für wichtig, wenigstens einmal im Leben die eigene volle Körperbehaarung kennenzulernen? Die Haare einmal im Leben einfach wachsen zu lassen?

Es wäre auf jeden Fall hilfreich zu schauen, wie man überhaupt in natürlichem Zustand aussieht. Zu sehen: Das ist mein Körper, und diese Möglichkeiten habe ich, um ihn zu gestalten. Es muss ja gar nicht dazu führen, dass wir uns dann nie wieder enthaaren, nie wieder zum Rasierer greifen. Das Spannende an Körperhaaren ist doch, dass es ein Mittel ist, was wir wahnsinnig schnell verändern können und wodurch sich unser gesamtes Aussehen ändert – wie bei Kopfbehaarung. Wir haben lange Haare und plötzlich eine Kurzhaarfrisur und sind ein ganz anderer Typ, haben ein anderes Körpergefühl oder werden anders wahrgenommen. Bei Körperhaaren nehmen wir dieses Potenzial aber nicht als solches an.

Gibt es Unterschiede in der Auseinandersetzung mit Haarlosigkeit je nach Geschlecht und Alter?

Grundsätzlich würde ich sagen, dass männlich gelesene Personen geschichtlich gesehen viel weniger im Zusammenhang mit ihren Körpern stehen als Frauen. Der weiblich gelesene Körper wurde und wird ständig bewertet, was zur Folge hat, dass der Wert einer Frau stark über ihren Körper definiert wird. Wohingegen männlich gelesene Personen ihr Ansehen vor allem durch ihr Handeln erlangt haben. Vielleicht sind sie deswegen weniger empfänglich für Schönheitsideale, wobei sich das auch verändert. Gerade Körperbehaarung scheint immer mehr auch ein geschlechtsübergreifendes Thema zu werden.

Körperbehaarung: Im Zeitalter der Haarlosigkeit

Geschlecht und Generation spielen in jedem Fall eine Rolle in Bezug auf den Umgang mit Körperhaaren. Entscheidender scheint mir aber, inwieweit eine Person mit der Enthaarungsnorm konfrontiert wurde. Zum Beispiel hat mir ein 60-jähriger Mann erzählt, dass für ihn Körperhaare immer was ganz Normales waren. Er hat sich da nie Gedanken drüber gemacht, hat sich auch nie rasiert, fand das auch bei Frauen nicht ungewöhnlich. Er geht seit Jahren regelmäßig in die Sauna, und irgendwann fällt ihm dort immer mehr auf, dass die Brustbehaarung verschwindet und er nur noch glatte Oberkörper sieht. Und plötzlich schaut er als 60-Jähriger auf seine haarige Brust und fängt an, sich unwohl zu fühlen. Weil er sich nicht mehr repräsentiert sieht. Das hat dazu geführt, dass er nun vor jedem Saunabesuch seine Brusthaare stutzt, obwohl er das selbst gar nicht so schön findet. Die Wahrnehmung des Umfelds spielt also eine große Rolle. Das zeigt sich auch bei vielen Geschichten, die ich gesammelt habe. Die handeln selbst bei gleichen Generationen von ganz unterschiedlichen Erfahrungen. Eine Frau konnte mit der Enthaarungsnorm überhaupt nichts anfangen, weil sie nie Berührungspunkte damit hatte. Eine andere berichtete, dass es in ihrer Familie normal war, dass Frauen keine Haare haben durften.

Ich finde es spannend, was daraus resultiert: Nämlich, wie wertvoll Gespräche über Körperbehaarung sind, weil sie aufzeigen, dass manche Menschen mit dieser Norm leben, sie aber nicht die Lebensrealität aller ist. Sondern eben nur überrepräsentiert im Vergleich zu behaarten Körpern. Das zu erkennen, kann uns, glaube ich, alle ein bisschen entspannen. Mir hat es zumindest sehr geholfen (lacht).

Du sprichst einen wichtigen Punkt an: Sehgewohnheiten, vor allem geprägt durch Werbung und Medien, halten die Norm der Haarlosigkeit aufrecht. Keine Shampoo-Werbung zeigt Achselhaare und – absurderweise – ist nicht einmal in Werbung für Enthaarungsprodukte Haar zu sehen. Frauen rasieren ihre bereits glattrasierten Beine.

Ja! Wie schlecht ist eigentlich eine Werbung, wenn sie das Ergebnis nicht zeigt. Man sieht den Unterschied gar nicht, den der Rasierer oder die Enthaarungscreme bewirken sollen, weil es genauso aussieht wie vorher. Dass es aber trotzdem funktioniert, und wir denken, ich muss mich unbedingt enthaaren, um toll auszusehen, ist schon erstaunlich.

2017 zeigte sich das schwedische Model Arvida Byström in einer Adidas-Kampagne mit unrasierten Beinen, erntete einen Shitstorm und bekam sogar Vergewaltigungsdrohungen. Gibt es überhaupt einen Weg, Sehgewohnheiten zu ändern und die Norm zu brechen?

Körperbehaarung: Im Zeitalter der Haarlosigkeit

Das Bild von dem haarlosen Frauenkörper hat sich krass in unseren Köpfen – und tatsächlich auch an unseren Körpern – manifestiert. Ein Aufbrechen ist nicht leicht und erfordert, dass wir die bestehenden Ideale hinterfragen und aktiv immer mehr Bilder kreieren, damit eine Arvida Byström nicht aus dem Rahmen fällt.

Gleichzeitig steht eine enorme Industrie dahinter, die ihre Produkte verkaufen möchte.

Die hat natürlich eine Riesenbedeutung. Was wir heute erleben, hat den Ursprung in diesem großen kommerziellen Markt um den weiblichen Körper, der entstanden ist, seit es Werbung gibt. Viele Werbebotschaften drehten sich darum, dass eine Frau haarlos zu sein hat, sonst sei sie hässlich, unweiblich, ekelerregend. Mittlerweile bilden viele Werbetreibende Diversität ab und zeigen auch mal Körperhaare. Primär natürlich, um Geld zu verdienen. Adidas zum Beispiel wollte mit der Aktion Aufmerksamkeit erregen – was gelungen ist. Auf der anderen Seite brauchen wir diese Bilder von behaarten Menschen dringend. Wir müssen Unterschiedliches wahrnehmen, damit wir überhaupt eine Chance haben, uns daran zu gewöhnen.

Wir haben diese Norm so verinnerlicht. Wie kann ich denn raus finden, was ich am besten und schönsten finde?

Eine Sache, die ich ganz hilfreich finde, wäre zum Beispiel, ein Gedankenexperiment zu machen, um sich erst einmal bewusst zu machen, ob und wie sehr dieser gesellschaftliche Druck von außen das eigene Schönheitsempfinden beeinflusst. Wenn wir uns rasieren, stellt sich die Frage: »Rasiere ich mich für mich, weil ich das selber schön finde. Oder rasiere ich mich, weil ich das Gefühl habe, die Gesellschaft erwartet das von mir?« Es ist erst mal egal, welche Antwort da rauskommt. Spannend ist dann, die Ausgangssituation der Frage umzudrehen: Wie würde die Antwort lauten, wenn das Schönheitsideal eines völlig behaarten Körpers vorherrschte?

In ihrem Buch Super(hairy)woman* (Ventil Verlag) sammelt Anna C. Paul Erfahrung aus dem Zeitalter der Haarlosigkeit.
In ihrem Buch Super(hairy)woman* (Ventil Verlag) sammelt Anna C. Paul Erfahrung aus dem Zeitalter der Haarlosigkeit.

Ich glaube, das kann helfen, da ein bisschen in das eigene Grundbedürfnis hinein zu spüren. Wonach mir eigentlich ist, wenn es die Enthaarungsnorm nicht gäbe. Es wäre schön, einen Zustand zu erreichen, in dem wir uns einfach wohlfühlen und nicht von außen eingeengt und eingeschränkt würden in dem, wie wir mit unserem Körper umgehen.

Anna C. Paul ist Körperhaaraktivistin und sammelt im Rahmen ihres Projekts »Super(hairy)woman*«[1] Erfahrungen und Geschichten aus dem Zeitalter der Haarlosigkeit. Die 29-Jährige wollte irgendwann nicht mehr hinnehmen, sich einer Enthaarungsnorm unterzuordnen, die ihr und ihrem Körper in erster Linie Probleme bereitete: Rasurpickel, eingewachsene Haare, Jucken und Ausschlag. Sie entschied sich wachsen zu lassen und zu dem Vorbild zu werden, dass sie selbst gern gehabt hätte.

Links:

  1. http://superhairywoman.com/