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  • Kinofilm »Licorice Pizza«

Aufmerksamkeit als Geschäftsmodell

»Licorice Pizza« ist eine Zeitreise in die irren 70er Jahre und die Geschichte einer ungewöhnlichen Liebe

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
Was ist hier noch normal für einen Heranwachsenden, der vom Casting-Termin zum Business-Lunch eilt?
Was ist hier noch normal für einen Heranwachsenden, der vom Casting-Termin zum Business-Lunch eilt?

Es gibt offenbar eine Kunst, lange Filme zu drehen, die auf sympathische Weise das Miniaturprinzip kultivieren. Sehenswert, aber warum eigentlich? Übertriebene Handlungsvolten gibt es nicht, und alle Poesie resultiert aus montierten Alltagspartikeln. Diese Kunst nennt man auch Collage. Da scheint etwas wie unverbunden, das doch zusammengehört - aber eher auf eine scheinbar zufällige Weise. Erst in der Rückschau wird klar: Diese vielen einzelnen Teile waren das Ganze und sonst nichts.

In dieser aphoristischen Art, Geschichten zu erzählen, eine nach der anderen, als gäbe es keine Zeit, unter deren Diktat man steht, ist Paul Thomas Anderson ein Meister. Das sah man erstmals in seinem Film »Magnolia«, mit dem der noch nicht 30-Jährige im Jahr 2000 auf der Berlinale überraschte. Damals erzählte er parallel gleich neun - scheinbar unverbundene - Lebensgeschichten: Menschen in Lebenskrisen, die sie ihrer Umwelt nicht mitteilen können: lauter unglücklich Liebende, unversöhnt Hassende und qualvoll Sterbende. Berühmt wurde er damals mit einer Szene, in der er - ein biblisches Motiv aufnehmend - Frösche regnen ließ. Ein handfester Wink des Himmels: Seid weniger stolz und hartherzig, in eurer letzten Stunde werdet ihr es bereuen!

Nun also, mehr als 20 Jahre später, ein Rückblick auf die 70er Jahre in San Fernando Valley am Rande von Los Angeles, wo Anderson aufgewachsen ist und heute immer noch lebt. Ein Rückblick auf eine Zeit, in der man selbst noch Kind war, muss nicht zwangsläufig ein verklärender sein, so zeigt »Licorice Pizza«. Nein, denn der kindliche Blick ist in all seiner Naivität doch immer auch von einer Lügen durchdringenden Klarheit.

Ein Motto aus »Magnolia«, der am gleichen Ort spielte, prägt auch diesen Rückblick, der zum genau beobachteten Porträt der damaligen amerikanischen Gesellschaft wird - und in unserer geschichtsvergessenen Zeit etwas Drängendes bekommt: »Wir haben mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber die Vergangenheit nicht mit uns.«

Wieder wird die Musik ein verbindendes Band zwischen den abrupt wechselnden Szenen. Bei »Magnolia« war sie von Aimee Mann, hier von Jonny Greenwood. Und während man in »Magnolia« Philip Seymour Hoffman sah, der 2014 einen plötzlichen Drogentod starb, spielt hier sein Sohn Cooper Hoffman den 15-jährigen Kinderschauspieler Gary Valentine, der sich in die Fotoassistentin Alana Kane verliebt und mit dem ans Hybride grenzenden Selbstbewusstsein des frühen Erfolgs beharrlich um die Mittzwanzigerin wirbt. Aber irgendwie gab es in den 70er Jahren noch keine Tugendwächter, denen das ein justiziabler Dorn im Auge gewesen wäre. Und so erleben wir das Werben, Wachsen, Verirren - samt phasenweiser schroffer Zurückweisungen und plötzlicher Hingabe - einer ungewöhnlichen Liebe.

Doch nicht der wohltuend unglatte, etwas übergewichtige Cooper Hoffman, der durchaus überzeugt, prägt diesen Film, sondern Alana Haim als Alana Kane, die hier samt ihren Schwestern zu sehen ist. Eigentlich ist sie Musikerin der Indie-Rock-Schwesternband HAIM. Mit ihrem spröden aber erstaunlich unverfälschten Charme zieht sie in ihrer ersten großen Filmrolle den Zuschauer sofort in ihren Bann. »Was hänge ich hier mit lauter 15-Jährigen rum?«, fragt sie sich nicht nur einmal irritiert und muss sich eingestehen, dass sie dieser Gary Valentine, dessen große Schwester sie sein könnte, fasziniert.

Man kann es auch mit dem etwas antiquierten Wort »Sittenbild einer Zeit« benennen. Zweifellos ist es auch ein Roadmovie, das jedoch gar nicht vorhat, vom Fleck zu kommen. Lauter kleine Episoden, die Lebenspartikel werden, aufblitzende Erinnerungsbilder in der Rückschau. Es ist eine Zeit, in der sich im Schatten des verlorenen Vietnam-Kriegs und der Beatkultur die traditionellen Normen und Werte der amerikanischen Gesellschaft auflösen. Auf unterschiedliche Weise. Man braucht nicht unbedingt etwas zu lernen oder zu studieren, um erfolgreich zu sein, auch nicht den ganzen Tag am Fließband zu stehen, um sein Geld zu verdienen: Eine zündende Geschäftsidee und vielleicht ein Job nebenbei tun es auch. Meist ist die Idee dann doch nicht so zündend, aber dann kommt schon die nächste und die übernächste: Die Medienbranche beginnt zu boomen, man wird schnell zum Star für einen Tag.

Doch damit verändern sich erst einmal immer mehr Lebensläufe und dann die ganze Gesellschaft. Man beginnt, mit Fiktionen und Versprechen zu denken und zu handeln, ja sogar in ihnen zu leben. Und niemand fragt, ob sie überhaupt einen Wert haben. Mode ist plötzlich etwas alle Lebensbereiche Durchdringendes - und wenn es diesem Film auch an einer durchgehenden Fabel mangelt, so besticht er doch durch seine leicht trashige 70er-Jahre-Ausstattung.

Den Prototyp des kommenden Medienunternehmers verkörpert der massige Gary Valentine noch in fast kindlicher Unschuld. Kein begabter Filmschauspieler, kein knallhart rechnender Geschäftsmann, kein wirklicher Erfinder oder konsequenter Verweigerer, sondern der neue Typus des cleveren Dilettanten, dem es genügt, dass man ihn kennt. Damit verdient er sein Geld. Fort aus der realen in die virtuelle Welt der Zukunft! So besitzt der minderjährige Gary bereits eine eigene PR-Agentur, in der seine Mutter als (vorerst noch) einzige Angestellte arbeitet.

Er selbst tritt in TV-Shows auf, wo er sich gern mit präzisem Sinn für Tabus danebenbenimmt. Die Aufmerksamkeitsindustrie arbeitet, er selbst nicht. Aber arbeitet sie nun für oder gegen ihn? Allein zu seinen Terminen reisen, Auto fahren oder Alkohol trinken in jenem Restaurant, wo man ihm wie selbstverständlich einen bevorzugten Tisch anbietet, darf der 15-Jährige noch nicht. Aber da ist ja Alana, die ist volljährig und begleitet ihn als »Anstandsdame« in die Welt des Medienschrotts. Und doch: Was sie verbindet, hat etwas mit einem echten Traum von Gemeinsamkeit zu tun, die sie suchen. Ein kleiner poetischer Hoffnungsfunke inmitten des herrschenden Zynismus von Kaufen und Verkaufen.

Alana hat noch andere Werte, definiert Pflicht und Leistung eher wie ihre Eltern - und scheint doch nicht völlig resistent gegen die Verführungen jener permanenten Medienanimation, die in diesen Jahren in Gang kommt. Ihre Unsicherheit ist echt und darum interessant. Man sieht dieses seltsame Paar einen Wasserbettenversandhandel betreiben, der natürlich furios scheitert; inmitten der Ölkrise, als es an keiner Tankstelle mehr Benzin gibt (offenbar ein amerikanisches Trauma), erfolgreich improvisieren.

Plötzlich sind da Hollywood-Fossile wie Sean Penn in einem Kurzauftritt, der als Jack Holden nur noch in eigenen Filmzitaten spricht und ansonsten völlig verrückt scheint. Was ist hier noch normal für einen Heranwachsenden, der vom Casting-Termin zum Business-Lunch eilt? Es scheint, dass Regisseur Paul Thomas Anderson, bei aller Melancholie, in der er die Bilder dieses Films taucht, die Abwesenheit jeglicher Substanz Sorgen bereitet.

»Licorice Pizza«, so der Originalfilmtitel, der nun auch der deutsche Verleihtitel ist, meint wörtlich übersetzt: Lakritz-Pizza. So etwas gibt es nicht (oder doch?), und sie kommt auch im Film gar nicht vor. Dass Anderson diesen Titel wählte, hat mit seiner Erinnerung an eine Plattenladenkette der 70er Jahre gleichen Namens zu tun.

Während dieser präzis komponierten Szenenfolgen fragt man sich 133 Minuten lang, ob hier eigentlich so etwas wie Entwicklung stattfindet. Nein, zumindest von Gary ahnt man, dass er 50 Jahre später immer noch so sein wird, wie jetzt schon: umtriebig, unsicher und überheblich zugleich. Zum echten Außenseiter aus Überzeugung reicht es bei ihm nicht.

»Licorice Pizza«: USA 2021. Regie und Drehbuch: Paul Thomas Anderson. Mit: Alana Haim, Cooper Hoffman, Bradley Cooper, Tom Waits, Sean Penn. 133 Minuten. Start: 27. Januar.

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