Schrödingers Bärtierchen

Wurde tatsächlich ein mehrzelliges Lebewesen mit einem Quantensystem verschränkt?

  • Sabrina Patsch
  • Lesedauer: 5 Min.

Bärtierchen sind wahre Überlebenskünstler. Kaum größer als eine Haaresbreite, faszinieren sie Forscher seit über 200 Jahren mit ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten. Sie können extremsten Bedingungen trotzen, indem sie sich in einen todesähnlichen Zustand versetzen. Daher findet man sie nicht nur in hiesigen Gewässern und Moosen, sondern auch im polaren Eis und seit dem Absturz einer israelischen Raumsonde 2019 sogar auf dem Mond. Ein Forscherteam um Rainer Dumke vom Center for Quantum Technologies (CQT) in Singapur und Tomasz Paterek von der Universität Gdańsk in Polen behauptet nun gar in einer online vorab veröffentlichten Arbeit, mit dem Bärtierchen die Barriere zur Quantenwelt durchbrochen zu haben. Die beiden Forscher sind nicht zum ersten Mal an ungewöhnlichen physikalischen Experimenten mit Tieren beteiligt. Für ihre Entdeckung, dass sich tote magnetisierte Kakerlaken anders verhalten als lebende, gewannen sie 2019 zusammen mit drei weiteren Wissenschaftlern den satirischen Ig-Nobelpreis.

Ihr neuestes Experiment rund um das Bärtierchen erinnert stark an Erwin Schrödingers berühmtes Gedankenexperiment aus dem Jahr 1935. Er stellte sich Folgendes vor: Man sperre eine Katze zusammen mit einem radioaktiven Atom und einem Giftfläschchen in eine Kiste. Wenn das Atom zerfällt, löst es einen Mechanismus aus, der Gift freisetzt und die Katze tötet. Der Zerfall des Atoms ist jedoch ein quantenmechanischer Prozess, was bedeutet: Solange der Zerfall nicht detektiert wird, befindet sich das Atom in einer Überlagerung aus den beiden Optionen »zerfallen« und »nicht zerfallen«, die Physiker Superposition nennen. Das Atom ist, salopp gesagt, zerfallen und nicht zerfallen gleichzeitig.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Was aber bedeutet das für die Katze? Schrödingers Schlussfolgerung ist: Wenn das Atom gleichzeitig zerfallen und nicht zerfallen ist, dann muss die Katze gleichzeitig tot und lebendig sein. Diese Überlagerung, in dem die Zustände zweier Quantenobjekte voneinander abhängen, heißt Verschränkung. Schrödinger wollte mit seinem Gedankenexperiment die Schwierigkeiten bei der Interpretation der Quantenphysik demonstrieren: Mit einer Theorie, die untote Katzen vorhersagt, könne etwas nicht stimmen.

Das Gedankenexperiment motivierte Wissenschaftler dazu, die Grenze zwischen unserer und der Quantenwelt zu erforschen. 2018 gelang Forschern bereits die Verschränkung eines Bakteriums mit Licht. Dumke und seine Kollegen gehen nun einen Schritt weiter. Sie behaupten, ein Bärtierchen, ein mehrzelliges Lebewesen, mit einem supraleitenden Qubit verschränkt zu haben. Unternehmen wie Google oder IBM verwenden diese zum Bau von Quantencomputern. Sie bestehen aus winzigen elektrischen Schaltkreisen, die sich bei tiefen Temperaturen wie künstliche Atome verhalten. Um ein Lebewesen mit einem Qubit zu verschränken, muss es insbesondere diese extremen Laborbedingungen überleben - Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt (- 273 Grad Celsius) und einen 100-mal geringeren Luftdruck als im Weltraum.

Das ist selbst für die hartgesottenen Bärtierchen nicht leicht. »Es war nicht einfach, die richtige Bärtierchenart zu finden«, erinnert sich Rainer Dumke. Unterstützung erhielt das Team von der Bärtierchen-Expertin Nadia Møbjerg aus Kopenhagen, die die im Experiment verwendeten Tierchen aus einer Dachrinne in Dänemark sammelte. »Wir brauchten einige Versuche, um das richtige Verfahren für Abkühlung und Erwärmung zu finden, das schonend genug ist«, erzählt Dumke. Einige Tierchen haben diese Prozedur nicht überstanden. »Wir hätten fast aufgegeben. Aber wir glaubten an die Überlebensfähigkeit der Bärtierchen und wurden am Ende nicht enttäuscht.«

Das Experiment zur Verschränkung der Bärtierchen war weniger dramatisch als bei Schrödinger: Es geht nicht um Leben und Tod; die Verschränkung ist subtiler. Zuerst platzierten die Forscher das Bärtierchen innerhalb des Schaltkreises des Qubits. Die Eigenschaften des Qubits hängen nun von dem Tierchen ab - die beiden sind verschränkt, sagen die Forscher. Anschließend verschränken sie dieses Bärtierchen-Qubit mit einem zweiten Qubit ohne Bärtierchen. Die Verschränkung zwischen den beiden Qubits konnten die Forscher experimentell bestätigen, und daraus folgerten sie: Das Bärtierchen muss mit dem ersten Qubit verschränkt gewesen sein. Andernfalls hätte die Verschränkung der beiden Qubits anders ausgesehen.

Doch diese Schlussfolgerung wird von Experten bezweifelt. Die Kritik ist, dass das Experiment den gleichen Ausgang genommen hätte, wenn die Wechselwirkung zwischen Bärtierchen und Qubit rein klassischer Natur wäre. Archana Kamal von der University of Massachusetts Lowell, Expertin für Quanteninformation: »Wenn ich das Qubit berühren könnte, kann ich dann sagen, dass mein Finger mit dem Qubit verschränkt ist? Natürlich nicht!« Für Kamal ist der Titel des Preprints »Verschränkung zwischen supraleitenden Qubits und einem Bärtierchen« bewusst irreführend gewählt. »Es gibt in diesem Experiment keine biologische oder makroskopische Verschränkung. Das Qubit ist lediglich groß genug, dass sich ein Bärtierchen darin ausruhen kann.«

Falls es den Autoren tatsächlich um viele Klicks im Internet ging, so waren sie erfolgreich. Mit weitgehend negativem Echo allerdings. Dumke sieht dies gelassen: »Die Twitter-Begutachtung war eine interessante Erfahrung.« Augenzwinkernd fügt er hinzu: »Anscheinend kann man Twitter nicht nur zum Regieren eines Landes, sondern auch zur Peer-Review verwenden.«

In einem Punkt sind sich Kamal und Dumke aber einig: Der Star der Geschichte ist das Bärtierchen selbst. Es überstand die extremsten Bedingungen während des Experiments schadlos. Um die Verschränkung endgültig zu beweisen, wollen Dumke und seine Kollegen weitere Messungen durchführen. »Dies liegt derzeit jenseits unserer technologischen Möglichkeiten, wir wollen es aber weiter versuchen.« Vielleicht wird das Bärtierchen also doch noch das erste Lebewesen, das in die »Fußstapfen« von Schrödingers Katze tritt.

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