nd-aktuell.de / 05.02.2022 / Reise / Seite 31

König, Kaiser, Käsekuchen

Mit mehr als 2100 Fachwerkhäusern aus acht Jahrhunderten zählt Quedlinburg zu den größten Flächendenkmalen Deutschlands

Carsten Heinke
Die Stiftskirche St. Servatii ist ein Wahrzeichen der Unesco-Welterbestadt
Die Stiftskirche St. Servatii ist ein Wahrzeichen der Unesco-Welterbestadt

Vom nahen Harz gut abgeschirmt, sonnt sich Quedlinburg wie so oft im besten Sonntagswetter. »Aus der Vogelperspektive gleicht die Altstadt einem Meer von roten Ziegeln«, schwärmt Sabine Houben. Die Frau mit fröhlichem Gemüt und heller Lockenmähne ist Lehrerin und Guide. Gern animiert sie ihre Gäste zu einem Blick vom Schlossberg. Wie eine Insel reckt sich dieser über all den vielen kleinen Dächern in den blauen, wolkenlosen Himmel. Überredet! Aufwärts geht es - über die Pastorentreppe, vorbei an jungen Kirsch- und alten Quittenbäumen und dank Sonnenlage in der meisten Zeit des Jahres an blatt- und blütenreichen Gärten.

»Schon als hier noch dichte Wälder standen, war der Ort ein Lieblingsdomizil der Fürsten«, weiß die 57-Jährige. Auch für sie ist Quedlinburg ein Herzensplatz. Als junges Mädchen kam sie einst hierher, verliebte sich in diese Stadt aus malerischen Kopfsteinpflastergassen voller Fachwerkhäuser - und blieb für immer.

In diesen Genuss kam Sachsenherzog Heinrich I. nicht. Er lebte zu einer Zeit, als Hof und Herrscher mangels festem Sitz das Reich von Pfalz zu Pfalz durchreisen mussten. Eine der temporären Residenzen ließ der spätere Ostfrankenkönig aber genau an dieser Stelle bauen. »Anno 922 wird die Burg auf einem Sandsteinfelsen überm Bodetal am Rand des Harzes erstmalig als Quedlinburg erwähnt«, lässt Sabine Houben ihre Gäste wissen und fährt fort: »Der König wie auch seine Kaisersöhne nutzten sie als Osterpfalz. Heinrich bestattete man nach seinem Tod wunschgemäß in der Pfalzkapelle auf dem Schlossberg.«

Zur Wahrung seines Andenkens gründete Heinrichs Sohn und Nachfolger Otto I. auf Initiative der Königinwitwe, seiner Mutter Mathilde I., ein Damenstift. Es versorgte, bildete und schützte unverheiratete Adelstöchter und mischte - dank enger familiärer Verbindungen zu den Mächtigsten - in der Politik entscheidend mit. Im Gegensatz zu einem Kloster besaß das Stift weltlichen Charakter, auch wenn es die längste Zeit von Äbtissinnen geführt wurde. Die erste von ihnen, Kaisertochter Mathilde II., wurde 966 im Alter von elf Jahren in das Amt geweiht. »Als eine der einflussreichsten Frauen der damaligen Welt lenkte dieses junge Mädchen die Geschicke Europas mit. Später vertrat sie zeitweilig sogar den Kaiser«, erzählt Houben.

In der Hand von starken Frauen

Wie groß der Reichtum der mächtigen und klugen Stiftsfrauen war, zeigt heute noch der so genannte Quedlinburger Domschatz - zu bestaunen in St. Servatius, für Jahrhunderte das Gotteshaus des Damenstifts. Die hochromanische dreischiffige Basilika mit ihrem streng geformten Zwillingsturmpaar bekrönt als Wahrzeichen von Quedlinburg seit neun Jahrhunderten den Schlossberg. In ihrer ganzen schlichten Schönheit und Erhabenheit kann man sie derzeit wegen umfangreicher Renovierung nicht bewundern. Doch trotz Baugerüst erhält man einen Eindruck. Und das Wichtigste: Die Domschatzkammern sind geöffnet!

Licht- und Szenenwechsel bei der City-Tour. Nach ein paar Treppenstufen und ein wenig Schlangestehen haben sich die Augen auf die Dunkelheit der beiden kleinen Räume eingestellt. »Der erste ist der so genannte Zitter«, erklärt die Führerin. Er sei eigens eingebaut zur Aufbewahrung aller Preziosen, die das Stift geschenkt bekam. Nachdem der im Zweiten Weltkrieg gestohlene Schatz 1993 aus den USA zurückgekehrt war, schuf man einen zweiten Raum, um alles sicher präsentieren zu können.

Die knapp beleuchteten Vitrinen setzen gold- und edelsteinbesetzte Kostbarkeiten wirkungsvoll in Szene. Flüsternd stellt Sabine Houben sie den Gästen vor: Reliquienkästen, -kreuze und -flakons, Prachthandschriften und geschnitztes Elfenbein wie der Heinrichskamm. Ältestes Stück ist ein 2000 Jahre alter Alabasterkrug aus Kana. Zu den kunsthistorisch wertvollsten zählt eine handgeschriebene und -gezeichnete Buchseite aus dem fünften Jahrhundert. »Sie gehört zum frühesten bekannten illustrierten Bibeltext der Welt«, so die Pädagogin.

Und weiter geht es in die Krypta, die bis auf die Fürstengruft Besuchern offen steht. Neben anderen sind dort die Grabplatten von acht Äbtissinnen zu sehen. Die wichtigsten Begräbnisstätten sind die des Gründerpaares Heinrich I. und Mathilde. Dass das Grab des Königs leer ist, bedauert Sabine Houben. »Niemand weiß, was aus seinem hier beigesetzten Leichnam geworden ist«, sagt sie.

Geehrt wird Heinrich vielerorts in Quedlinburg - auf die wohl menschlichste Art mit einem Brunnen in der Turnstraße. Das 2007 aufgestellte Kunstwerk von Jochen Müller greift die Legende um die Krönung auf. Denn die erzählt, dass sich Sachsenherzog Heinrich I. gerade auf der Vogeljagd befand, als er von der Königswahl erfuhr. So lässt ihn der Bildhauer, schleichend und zum Fang bereit nach vorn gebeugt, auf einen Finken zugehen, während Frankenherzog Eberhard bereits die Krone in den Händen hält.

Der Ort der sagenhaften Szene war der Finkenherd am Fuß des Schlossbergs. Eine Straße trägt noch immer diesen Namen. Ihr bekanntestes Gebäude ist die Nr. 1 - ein kleines, allerliebstes Fachwerkhaus mit spitzem Dach sowie drei freien Seiten. Es entstand im späten Mittelalter und beherbergt heute eine Zweigstelle der Touristen-Information.

Gleich um die Ecke steht das Geburtshaus des Dichters Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803). Das darin befindliche Museum informiert über Leben und Werk des deutschen Literaten und dessen Zeitgeschichte. Dass es ringsherum nach frisch Gebackenem duftet, liegt an den Cafés »Vincent« und »Am Finkenherd«, die berühmt für ihre Käsekuchen sind. Die Rezepte dazu stammen noch aus Omas Zeiten oder sind moderne Eigenkreationen wie Sabine Houbens Lieblingssorte mit vielen Heidelbeeren. »Bei Sonnenschein und milden Graden genießt man sie im Freisitz an der frischen Luft - mit wunderbarem Blick zum Schlossberg und auf den Platz davor«, so die Gästeführerin über die Lieblingsnascherei der Quedlinburger.

Die Augen schlemmen mit

Süße Leckereien mit Aussicht gibt es in der ganzen Innenstadt. Neben ihren schmucken, oftmals hochbetagten Fachwerkhäusern, eleganten Villen, Parks und Schlösschen bietet sie auch viele Gelegenheiten für kulinarische Verführungen. Die höchste Dichte an Lokalen aller Art ist auf dem Markt zu finden. Bei schönem Wetter wie an diesem Tag reiht sich dort ein Freisitz an den anderen. Sie gehören zu Cafés und Bäckereien, Hotels und Restaurants. Man sitzt und schlemmt in einer fabelhaften Szenerie aus vielen Hundert Jahre alten, bunten Baukunstschätzen.

Dominiert wird die Kulisse durch die Türme von St. Benedikti und dem Rathaus aus der Gotikzeit. Ein 2,75 Meter hoher steinerner Roland, der im 15. Jahrhundert geschaffen wurde, wacht vor der Frontfassade. Traditionell ist diese von dicken Efeupolstern überwuchert. Auch die Blumenkästen sind nicht aus den Fenstern wegzudenken. Warum, erklärt Houben: »Früher wurden sie mit duftenden Kräutern bepflanzt, um den damals allgemein üblichen Straßengestank zumindest etwas abzumildern und so die Luft in den Amtsstuben zu verbessern.«

Heute kann man sich die Stadt ganz unbesorgt in tiefen Zügen gönnen - umso mehr, wenn so wie jetzt eine Dixie-Band aus Tschechien mit legeren Rhythmen für Entspannung sorgt. Wie dafür gemacht, empfiehlt sich Wolfgang Dreysses Brunnen »Münzenberger Musikanten« als Straßenbühne für das sonntägliche Open-Air-Konzert.

Zumindest Wasserplätschern als Geräuschkulisse zum Kaffee bietet sich ebenso am Kornmarkt. Denn unmittelbar vor Café und Kneipe »Ruinenromantik« steht seit 1989/90 der von Bernd Göbel geschaffene Brunnen »Persönlichkeiten der Quedlinburger Geschichte«. Zu den mittelalterlichen Gründern gesellte der Bildhauer hier unter anderen auch den Hund Quedel, Wappentier der Stadt, und eine Figur, die die Bedeutung der Saatgutproduktion repräsentieren soll.

Am auffälligsten ist die Brunnenstele mit einer Frauenbüste. Diese zeigt die Ärztin Dorothea Christiane Erxleben. 1715 als Tochter eines Arztes in Quedlinburg geboren, war sie 1774 die erste Deutsche, die tapfer und erfolgreich für mehr Frauenrechte kämpfte und einen Doktortitel der Medizin erwarb. Trotz jahrhundertelanger weiblich geprägter Politik durch die Äbtissinnen hielt man auch in dieser Stadt lange an alten Rollenmustern fest. Die promovierte Akademikerin, die bis zu ihrem frühen Tod in Quedlinburg lebte und als Ärztin praktizierte, wurde dennoch stets - mit Verweis auf den Beruf ihres Ehemannes - mit »Frau Pastorin« angesprochen.