Die Monate vor den Beatles

Vor 60 Jahren revolutionierte Bill Evans den Jazz

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 5 Min.
»Mich fuchst es, wenn Leute versuchen, Jazz intellektuell zu analysieren«: Bill Evans legt sich gefühlvoll in die Tasten.
»Mich fuchst es, wenn Leute versuchen, Jazz intellektuell zu analysieren«: Bill Evans legt sich gefühlvoll in die Tasten.

Es ist schlecht bestellt um den Hipster. Denn es gibt zu viele von ihnen. Vor allem in der »Generation Erben«. Dort lässt sich mit den Statussymbolen von einst - Limousine und Eigenheim - nichts mehr reißen. Das erkannte das Onlinereisebüro Expedia bereits 2013 und warb mit dem Slogan »Reise dich interessant!« Zum Beispiel, indem man den Urlaub in Bulgarien verbringt. Das soll cool wirken. So wie das Tragen von DDR-Trainingsjacken in Szenebars. Schade, dass Erich und Margot dies nicht mehr erleben durften.

Reden wir also lieber von den wahren Hipstern! Die der 50er Jahre. Die trugen schon damals jene Hornbrillen, die mittlerweile wieder in sind. Mit dem Unterschied: Was heute teure Designermodelle sind, waren ehedem die üblichen Kassengestelle. Die Brille gab es massenhaft, den Hipster nicht. Er war der Individualist unter lauter Konformisten. Was man ihm aber nicht ansah. Dass er anders war, musste er nicht noch äußerlich hervorheben. Er bedurfte keiner modischen Extravaganzen, um in Ungnade zu fallen. Seine Umgebung erinnerte den Hipster auch so daran, dass sie seine Unangepasstheit missbilligte. Abweichungen von der Norm hatten Konsequenzen. Das musste selbst ein Star wie Hildegard Knef in der Wirtschaftswunder-Bundesrepublik erfahren. Als sie Ende der 50er Jahre eine Beziehung mit dem verheirateten Schauspieler David Cameron (ihrem späteren Ehemann) begann, folgte die gesellschaftliche Ächtung auf dem Fuß. »Die Sünderin« (so auch der Titel ihres Skandalfilms von 1951) hatte wieder einmal eine Grenze überschritten.

Und im Amerika vor John F. Kennedy ging es nicht besser zu. Wenn der Jazzpianist Bill Evans in den Südstaaten tourte, musste seine Freundin in einem anderen Hotel übernachten - sie war farbig. Da staunt man erstmal. Und richtig baff ist man, wenn man erfährt, dass er heroinabhängig war. Denn Evans wirkte nicht wie ein Grenzüberschreiter. Und schon gar nicht wie ein Rebell in der Tradition von James Dean oder dem jungen Marlon Brandon (dem aus »Die Faust im Nacken«). Obgleich Ende zwanzig sah er aus wie der ewige Oberschüler, der seine Freizeit in der Mathematik-AG zubringt. Natürlich trug er Hornbrille und Anzug. Aber traten nicht auch die Beatles und sogar die Rolling Stones in ihren Anfangsjahren noch im Zweireiher mit Schlips auf?

Das Wilde, Revolutionäre bestand nicht darin, was Bill Evans anzog, sondern, was er abzog. Gemeinsam mit Miles Davis stellte er 1959 auf »Kind of Blue« mal eben 250 Jahre Musikgeschichte auf den Kopf. Das seit dem Barock geltende Prinzip der Tonalität ersetzten die beiden durch das der Modalität. Es ging nicht länger um »erlaubte« Dreiklänge innerhalb eines Dur-Moll-Systems, sondern um Grundtöne und musikalische Figuren, die wiederholt und variiert werden. Dadurch aber wird das harmonische Korsett gesprengt. Die Musiker können - bildlich gesprochen - nicht nur zwischen verschiedenen Menüs wählen, sondern sich an einem Büffet aus zahllosen Komponenten bedienen. Auf diese Weise eröffnen sich beim Improvisieren ganz neue Möglichkeiten, die Miles Davis und Bill Evans auf coole und aufregende Weise zugleich nutzten.

Doch wo Genies aufeinandertreffen, sind Konflikte vorbestimmt. Evans wollte eigene Wege gehen, wohl auch, weil Davis die alleinige Urheberschaft an zwei Stücken auf »Kind of Blue« beanspruchte, die tatsächlich Evans geschrieben hatte. Noch im gleichen Jahr gründete er mit dem Kontrabassisten Scott LaFaro und dem Schlagzeuger Paul Motian sein eigenes Trio. Gleich das erste Album »Portrait in Jazz« (1960) wurde zu einem musikalischen Triumph.

Anders als der autoritäre Davis lebte Evans Demokratie. Bei ihm war auch der Mann, der die Tieftöne zupfte, gleichberechtigt - es lebe das Kontrabass-Solo! Dann kam der Auftritt im New Yorker Jazzclub Village Vanguard, der alles veränderte. Es war der 25. Juni 1961, ein Datum, das alle Anwesenden nicht vergessen sollten. Der Jazzjournalist Ira Gitler beschrieb das Konzert so: »Die Musik des Trios umhüllte mich wie magische Energie. Ich hob ab, mein Bewusstsein schien sich in Klang aufzulösen - Kopf und Körper wurden zu einem riesigen Ohr, die Musik durchströmte mich. Bills Ansicht, Musik sei nichts als Feeling, war mir nie klarer.«

Es sollte das letzte Mal sein, dass das Trio derartige Selbstvergessenheit auslöste. Elf Tage nach dem Konzert starb der Kontrabassist Rocco Scott LaFaro bei einem Autounfall. Zum Glück für uns, die Nachgeborenen, war das Konzert aufgezeichnet worden. Die Alben »Sunday at the Village Vanguard« und »Waltz for Debby« halten jene Stunden fest, in denen Bill Evans und Co. über sich hinauswuchsen.

Diese Musik Jahrzehnte später das erste Mal zu hören, löst ein irritierendes Gefühl aus. Denn 1962 war ja nicht nur das Jahr, in dem »Waltz for Debby« erschien, sondern auch »Love me do«, der erste Hit der Beatles. Hier traten zwei Gegenkulturen gleichzeitig auf den Plan, um jungen Menschen den Weg in eine freiere Welt zu weisen. Es war ein ungleicher Wettstreit um die Gunst jugendlicher Herzen. Gegen die elektrisch verstärkte Gitarre hatte das zurückhaltende Klavier von Evans keine Chance. Und vor einer freudig herausgeschrienen Zeile wie »She loves you, yeah, yeah, yeah« verblasste jede kunstvolle Improvisation. Die Macht des Beat ließ keinen Raum für Virtuosen.

Der Jazz, der zu Swingzeiten Ballsäle gefüllt hatte, zog sich in Nischen zurück. Die Entwicklung, die Bill Evans und Miles Davis möglich gemacht hatten, endete schon bald im Free Jazz, der sich die Freiheit herausnahm, das Publikum zu verprellen. Es war selbstbezogene Musiker-Musik, die erst gar nicht den Versuch machte, die Massen für sich zu gewinnen. Im Gegenteil. Das Dissonante, Schrille sollte provozieren, abschrecken - klangliche Grausamkeiten als künstlerisches Konzept. So fraß die Revolution einmal mehr ihre Kinder.

Von dieser traumatischen Erfahrung - die Jakobiner-Jahre des Jazz - hat sich das Genre bis heute nicht erholt. Wenn er nicht grad als »Bar-Jazz« oder »Dinner-Jazz« vermarktet wird, gilt er als verkopfte, anstrengende Musik, an der sich Akademiker abarbeiten. Bill Evans hatte diese Entwicklung abgelehnt: »Mich fuchst es, wenn Leute versuchen, Jazz intellektuell zu analysieren - als wäre er eine wissenschaftliche Theorie. Das ist er nicht. Er ist ein Feeling.« Das 60-jährige Jubiläum der Alben »Sunday at the Village Vanguard« und »Waltz for Debby« ist ein guter Anlass, dieses Gefühl neu zu erleben. Und sich in eine Zeit zurück zu beamen, in der »Hipster« noch kein Schimpfwort war.

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