nd-aktuell.de / 18.02.2022 / Politik / Seite 3

Mutschöpfen in der »Nudelbude«

Wie Mitarbeiter der Teigwarenfabrik Riesa einen Betriebsrat gründeten und damit auch Wendefrust abbauten

Hendrik Lasch

Welche Eigenschaften braucht es, damit jemand Betriebsrat wird? Auf die Frage gibt es etliche Antworten. Selbstbewusstsein ist von Vorteil, wenn mit Managern verhandelt wird. Ein offenes Ohr ist nützlich, wenn es darum geht, Sorgen von Kollegen zu erspüren. Ein gutes Gedächtnis für Paragrafen schadet sicher nicht. Die wichtigste Eigenschaft aber ist eine ganz andere, sagt Anja Reisky, die 2018 zu den Mitbegründerinnen des ersten Betriebsrats bei der Teigwaren Riesa GmbH gehörte: »Was vor allem nötig ist, ist Mut.«

Die Aussage wirkt auf den ersten Blick befremdlich. Betriebliche Mitbestimmung ist in der Bundesrepublik seit vielen Jahrzehnten etabliert; die geltende Fassung des Betriebsverfassungsgesetzes, in dem ihre Grundsätze geregelt sind, wurde jetzt 50 Jahre alt. Dass Betriebsräte die Interessen von Beschäftigten artikulieren, genießt zudem höchste politische Anerkennung. Es zeige, dass »Arbeitnehmer nicht bloße Befehlsempfänger sind«, sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kürzlich auf einer Gewerkschaftskonferenz. Mitbestimmung habe ein »urdemokratisches Motiv«, fügte er hinzu, und gebe »Menschen eine Stimme«.

Jenseits feierlicher Reden sieht die Realität trister aus. Bundesweit gibt es nicht einmal in jedem zehnten Unternehmen einen Betriebsrat. Deren Gründung sei noch immer ein »umstrittenes Unterfangen«, erklärt das wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Entsprechende Anläufe würden in 15,6 Prozent der Fälle behindert, von diesen scheitert denn auch ein Drittel. Oft werden Initiatoren eingeschüchtert oder, wenn ihr Plan zu früh bekannt wird, sogar gekündigt. Reisky und ihre Mitstreiter setzten ihr Vorhaben in Riesa daher um wie eine Geheimoperation: Das erste Treffen mit dem Gewerkschafter Thomas Lißner, der sie beraten und unterstützen sollte, fand 30 Kilometer entfernt in einem anonymen Schnellrestaurant statt. Sie hätten sich, räumt Reisky ein, damals »schon gefragt, was mit uns wird, wenn es schief geht«.

Andererseits war der Leidensdruck in dem ostdeutschen Traditionsbetrieb, den die Beschäftigten liebevoll-ironisch »Nudelbude« nennen, enorm, wie Reiskys Betriebsratskollegin Anke Kühne sagt. Sie stieg vor 22 Jahren in der Firma ein - zu einem Stundenlohn, der »bei D-Mark-Preisen gar nicht so schlecht aussah«. Die Zufriedenheit hielt indes nicht lange an. Dafür sorgten nicht zuletzt Betriebsfeiern mit Kollegen aus dem Westen. Das Riesaer Werk ist Teil der Albgold-Gruppe, eines familiengeführten Unternehmens mit weiteren zwei Werken in Schwaben. Dort gibt es, wie sich im Gespräch mit Kollegen herausstellte, Nachtschichtzuschläge von 25 Prozent, in Riesa nur 10 bis 15 Prozent. Auch die Stundenlöhne sind viel niedriger; die Lohnlücke wird auf rund 800 Euro beziffert. Jahrelang blieben in Riesa zudem Investitionen aus; Maschinen wurden auf Verschleiß gefahren; Leistungszuschläge willkürlich gekürzt. Die Folge war Unzufriedenheit. Jüngere Kollegen kehrten der Firma den Rücken; ältere, die Riesa wegen der Familie oder des eigenen Hauses nicht verlassen konnten, schoben Frust: »Die Stimmung war am Boden«, sagt Kühne.

Es gab freilich Zeiten, in denen auch eine miese Stimmung nicht zur Gründung einer Interessenvertretung geführt hätte. So war vor allem in den 1990er Jahren mit ihren hohen Arbeitslosenzahlen in Ostdeutschland die Angst vor dem Verlust des Jobs übermächtig: »Man war ja froh, wenn man überhaupt etwas hatte«, sagt Reisky. Die Folge: Unternehmen in Sachsen, viele davon mit westdeutschen Eigentümern, zahlten nur so viel wie unbedingt nötig; die CDU-Landesregierung sah Niedriglöhne als Standortvorteil. Gewerkschaftliches Engagement und betriebliche Mitbestimmung waren verpönt. Im Teigwarenwerk Riesa waren noch Anfang 2018 gerade einmal vier der rund 180 Beschäftigten in der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) organisiert. Die Folgen jener Politik wirken bis heute nach. Sachsen sei, heißt es beim DGB, das bundesweite Schlusslicht bei Mitbestimmung und Tarifverträgen. Letztere greifen für gerade einmal 40 Prozent der Beschäftigten.

Zudem wirkt in Belegschaften womöglich eine DDR-Sozialisation nach, die Konflikte eher scheut, auf gütliche Einigung setzt und freiwillige Zugeständnisse der Geschäftsführung erhofft: »Man wollte ja nicht gleich mit Betriebsrat und Streik drohen«, sagt Kühne. Der versöhnliche Kurs zeitigte freilich kaum Erfolge: »Immer wieder gab es auf Betriebsversammlungen höfliche Anfragen, aber passiert ist immer wieder nichts.«

Im Frühjahr 2018 schließlich lief in der Riesaer »Nudelbude« das Fass über. Wie viel Druck auf dem Kessel gewesen war, zeigt sich im rasanten Tempo, mit dem der Betriebsrat gegründet wurde. An einem Freitag hatten die drei Initiatoren mit Gewerkschafter Lißner zusammen gesessen, der zuständiger Sekretär der NGG in der Region ist. Am folgenden Montag lud dieser zu einer Versammlung ein, auf der ein Wahlvorstand bestimmt werden sollte. Diese fand schon zehn Tage später statt. Als der siebenköpfige Betriebsrat kurz darauf tatsächlich gewählt wurde, beteiligte sich die Belegschaft fast geschlossen: 138 von 142 Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab. Parallel dazu schoss die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder in die Höhe. Nach fünf Monaten waren es 100; heute liegt der Organisationsgrad bei 85 Prozent.

Für die frisch gewählten Betriebsräte war die Wahl ein Sprung ins kalte Wasser: »Wir waren ja alle Laien«, sagt Anja Reisky. Zugleich waren die Erwartungen, die man im Betrieb mit der Gründung des Betriebsrates verband, groß. »Es sollte endlich Gerechtigkeit zwischen Ost und West geben«, sagt Anke Kühne: »Wir wollten uns nicht mehr wie Menschen zweiter Klasse fühlen.« Folglich machten die neuen Arbeitnehmervertreter zügig Nägel mit Köpfen. Im September forderten sie die Geschäftsführung zu Tarifverhandlungen auf. Als diese ablehnte und mitteilte, man wolle nicht mit »Dritten« - gemeint war die Gewerkschaft NGG - verhandeln, kam es zum ersten Warnstreik, auf den binnen sechs Monaten sechs weitere folgten.

Der Arbeitskampf bei der Teigwaren Riesa GmbH[1] sorgte überregional für Schlagzeilen - und schuf in der Belegschaft ein bis dahin ungekanntes neues Gefühl von Einfluss und Zusammenhalt: »Manche Kollegen hat man vorm Werkstor erst richtig kennen gelernt«, sagt Kühne. Dabei war die Abwägung nicht einfach. Ein Ausstand ist, auch wenn es Streikgeld von der Gewerkschaft gibt, mit finanziellen Einbußen verbunden. Im Betrieb arbeiten viele alleinerziehende Frauen, für die es »ein echtes Problem ist, nichts zu haben und dann noch etwas weggenommen zu bekommen«, sagt Reisky. Dennoch gab es in der Belegschaft viel Rückhalt für die Streiks - die Wirkung zeigten: Im Mai 2019 wurde ein Manteltarifvertrag geschlossen, später gab es eine Einigung zu Löhnen und Gehältern.

Für die Beschäftigten, darin ist man sich heute in Riesa einig, hat es sich gelohnt, dass einige Engagierte ihren Mut zusammen genommen und den Betriebsrat gegründet haben. Zwar habe es auch Rückschläge gegeben, sagt NGG-Sekretär Lißner. So wurde das »Nudelcenter« ausgegliedert, eine Schaumanufaktur, die zu den ansonsten eher spärlich gesäten touristischen Attraktionen der Stadt Riesa zählt, aber zeitweise gar vor der Schließung stand. Auch heikle Momente habe es gegeben, etwa, als die Geschäftsführung ein Lohnplus von sieben Prozent versprach, unter der Bedingung, dass die Mitarbeiter auf einen Tarifvertrag verzichten. Er sei sich, räumt Lißner ein, nicht sicher gewesen, ob da »die Einheit der Belegschaft ins Wanken kommt«. Sie wankte nicht.

So kann der Aufbruch in der »Nudelbude« heute als Inspiration dienen: »Das ist ein Impulsgeber für Konflikte in anderen Firmen[2]«, sagt Lißner. Er glaubt, dass in Riesa »auch ein Stück Wendefrust verarbeitet und in Aufbruchstimmung umgewandelt wurde«. Es sei das Gefühl entstanden, »etwas bewegen zu können«. Das hält auch bei Reisky und Kühne an. Wenn im Teigwarenwerk Riesa, wie in rund 28 000 weiteren Betrieben in Deutschland, ab Anfang März die Betriebsräte neu gewählt werden, bewerben sich beide erneut um das Amt. Dieses sei nützlich für die Kollegen - aber nicht nur für diese. »Unternehmen können froh sein, wenn ihre Mitarbeiter Probleme lösen und nicht nur Dienst nach Vorschrift leisten wollen«, sagt Anja Reisky. »Wir tragen zum Betriebsfrieden bei«, sagt Anke Kühne. Und womöglich sogar zur Lösung des Fachkräfteproblems, ließe sich anfügen: Manche Neueinsteiger, sagt Reisky, »fangen bei uns an, weil es einen Betriebsrat gibt und die Dinge damit gut geregelt sind.«

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1156381.tarifvertrag-erfolg-fuer-kampfbereite-belegschaft.html?sstr=Riesa
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1139729.aufbruch-ost-der-osten-schlaegt-zurueck.html?sstr=Riesa