nd-aktuell.de / 25.02.2022 / Kommentare / Seite 8

Lasst uns Arbeitszeit verlieren!

HEISSE ZEITEN - Die Klimakolumne über den Zusammenhang von Arbeitszeiten und Umweltfragen

Lasse Thiele

Noch nie konnte eine kleine Gruppe von Klimaaktivist*innen über Wochen so die Schlagzeilen dominieren wie der »Aufstand der letzten Generation«. Die Aktivist*innen lösen zielsicher die maximalen Empörungsreflexe aus, indem sie sich einfach täglich vor Autos setzen - auf dem Arbeitsweg oder gar im Arbeitseinsatz. Autos, Arbeit: gleich zwei deutsche Sakrilege auf einmal. Über die Aktionen, Reaktionen und den Autokult ist schon allerlei gesagt worden, aber die Sache mit den Deutschen und der Arbeit verdient aus Klimasicht einen zweiten Blick. Denn eine allgemeine Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit wäre der mächtigste Türöffner für eine klimagerechte Transformation.

Im Kapitalismus erleben wir eine ständige Steigerung der Arbeitsproduktivität, die uns aber nicht weniger arbeiten lässt - ein tabuisierter Skandal dieses Wirtschaftssystems. In der neoliberalen Ära haben auch Gewerkschaften keine kürzeren Arbeitswochen mehr durchsetzen können. Gestützt wird dies hierzulande durch eine Kultur der Überidentifikation mit (Erwerbs-)Arbeit. Die reicht, losgelöst von ihrem Inhalt, als Erst- und Letztbegründung, im Zweifelsfall auch als Selbstzweck. Jede Klimaschutzdebatte (ver-)endet als Arbeitsplatzdebatte.

Nun wäre durch kürzere Normarbeitszeiten und entsprechende Umverteilung von Arbeit jede Menge zu gewinnen. Die bisher auf dem Arbeitsmarkt Ausgeschlossenen hätten größere Chancen auf materielle und gesellschaftliche Teilhabe. Den Überarbeiteten winken freie Zeit und Jobsicherheit. Privatisierte Sorgearbeit könnte so geschlechtergerechter verteilt werden, auch wenn das kein Automatismus wäre. Die gewonnene Zeit erleichterte auch reale politische Teilhabe und damit Demokratisierung. Ökologisch bedeutete das unmittelbar weniger Verkehr und langfristig bessere Voraussetzungen für den Abbau überflüssiger Produktion. Abbauen ließen sich auch klimapolitische Widerstände: Nur bei Arbeitszeitverkürzung wären deutsche Exportindustrien wirklich nachhaltig umbaubar, ohne Zigtausende Jobs zu streichen.

Dieser Ansatz könnte das Spielfeld für diverse - damit freilich noch nicht gewonnene - politische Konflikte gründlich umgraben. Statt Klimaschutz defensiv über endlose Verzichtsdebatten zu diskutieren, könnten wir hier ein ehrliches Versprechen auf mehr Lebensqualität milieuübergreifend anschlussfähig machen. Die lange Liste von Gewinner*innen eröffnet Bündnismöglichkeiten, auch zwischen Akteur*innen, die sonst schwierig zueinanderfinden, wie Klimabewegung und Gewerkschaften. Sie könnten diverse Wege zur Arbeitszeitverkürzung einschlagen. Die könnte zuerst branchenweise in Tarifverhandlungen erkämpft werden; progressive Kommunen könnten sie im öffentlichen Dienst erproben und staatliche Vorgaben sie letztlich in der Breite durchsetzen.

Dabei gibt es keinen Anlass zur Naivität. Hier geht es um den jahrhundertealten Kampf ums ökonomische Mehrprodukt, nicht bloß um eine frisch-fröhliche Innovationsidee für die Work-Life-Balance. Die Verteilungsfrage stellt sich sofort: Wer erhält wie viel Lohnausgleich? Bei niedrigeren Einkommen muss es natürlich mindestens um vollen Ausgleich gehen. Auch müsste die verhärtete Arbeitsideologie dafür mindestens aufgeweicht werden, zuerst in den Gewerkschaften selbst - in Deutschland schon eine mitteltiefe Kulturrevolution. Aber ohne eine solche ist Klimagerechtigkeit nicht vorstellbar. Dafür lädt schon die Debatte über Arbeitszeit zur Problematisierung der systemischen Abhängigkeit von gesellschaftlich sinnloser Arbeit ein. Das eröffnet einen postkapitalistischen Horizont - gerade für Jüngere.

Bei aller anstehenden Überzeugungsarbeit taugt Arbeitszeitverkürzung damit zur gemeinsamen Kernforderung sozialer Bewegungen. Würde auch die Linkspartei sie offensiv vertreten, statt sie im Wahlprogramm zu verstecken, könnte sie darin den Konflikt mit der Ampel-Regierung suchen. Die plant stattdessen, Arbeitszeiten in alle Richtungen zu flexibilisieren - und dabei primär Bessergestellte ihre individuelle Work-Life-Balance optimieren zu lassen, wohingegen gerade Niedriglöhner*innen in den Genuss verlängerter Höchstarbeitszeiten kommen dürften. Dagegen knüpft die Forderung nach einer kürzeren Normarbeitszeit für alle an eine lange Tradition von Arbeitskämpfen an. Zeit, sie wiederzubeleben!