Fassungslos und hilfsbereit

Die Oberbürgermeisterin von Borna hilft Kriegsopfern aus der ukrainischen Partnerstadt bei der Flucht / Kritik an zu langsamer Reaktion der Bundespolitik

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Sprachnachricht erreichte Simone Luedtke am Samstag um 7:09 Uhr. Ein befreundeter Kommunalpolitiker aus der ukrainischen Stadt Irpin teilte der Oberbürgermeisterin im sächsischen Borna mit, er sei mit seinem Sohn, dessen Mutter und einer Freundin auf dem Weg zur Grenze und bitte um Hilfe. Kurz darauf saßen die Kommunalpolitikerin der Linken und ihr Mann im Auto und fuhren gen Osten: knapp 900 Kilometer in den polnischen Grenzort Korczowa, wo ein riesiges Aufnahmelager aus dem Boden gestampft wurde. Die Aktion dauerte 30 Stunden. Am Sonntag kurz nach Mittag waren die beiden Frauen und der zwölfjährige Junge in Sicherheit in Borna: drei von Zigtausenden Menschen, die vor dem Krieg fliehen.

Dass ein solcher einmal in der Stadt wüten könnte, mit der Borna seit fast einem halben Jahrhundert verbunden ist, hätte Luedtke sich nicht vorstellen können: »Wir sind völlig fassungslos.« Irpin liegt am westlichen Stadtrand der ukrainischen Hauptstadt Kiew, südlich des Flughafens Hostomel und damit »mitten in der Kampfzone«, sagt die Rathauschefin. Videos, die Bekannte ihnen schicken, zeigten »Straßen voller Panzer, zerschossene Kitas und Schulen, Schutt und Asche«. Die Stadt zählte gut 40 000 Einwohner, bot aber nach der Besetzung der Krim im Jahr 2014 darüber hinaus vielen Flüchtlingen Zuflucht. Nun ist auch Irpin kein sicherer Hafen mehr. Wer kann, sucht das Weite. Mancher fand im Westteil der Ukraine bei Verwandten Unterschlupf. Andere verlassen die Heimat wie die drei Flüchtlinge, die Luedtke abholte.

Sie waren im Auto bis ans Ende der 20 Kilometer langen Fahrzeugschlange vor der Grenze gebracht worden, dann zu Fuß zum Übergang gelaufen und in Bussen in das Lager gebracht worden, das die polnischen Behörden »extrem professionell« errichtet hätten: »Es gibt eine Liege, Kissen und Decke für jeden, Verpflegung, Windeln. Das ist toll organisiert«, lobt Luedtke. In der Halle seien derzeit rund 5000 Frauen und Kinder jeden Alters untergebracht. Männer dürfen nicht ausreisen; sie werden zur Verteidigung herangezogen. Luedtke und ihr Mann wiederum absolvierten eine nächtliche Irrfahrt, weil die polnische Polizei alle Straßen in Richtung Grenze gesperrt habe. Am Lager und in großem Gewimmel telefonierten sie sich schließlich mit den drei ihnen bis dahin unbekannten Geflüchteten zueinander und traten die Rückfahrt nach Deutschland an.

Dort wiederum lässt die Organisation eher zu wünschen übrig. Zwar hatte ein befreundeter Unternehmer bereits ein Zimmer im Hotel »Drei Rosen« bereitgestellt. Ansonsten aber hingen die Geflüchteten in der Luft, sagt Luedtke. Der Grund: Gesetzliche Regelungen, mit denen die deutsche Bundesregierung die Rahmenbedingungen für die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine regeln will, sollen erst am Donnerstag beschlossen und müssen danach noch von den Ländern umgesetzt werden. Zu regeln sind Fragen etwa zu Krankenversicherung und finanzieller Absicherung. Angesichts der Tatsache, dass schon unmittelbar nach Kriegsausbruch die ersten Geflüchteten aus der Ukraine in der Bundesrepublik eintrafen, »hätte man das schneller regeln müssen«, sagt Luedtke. Sie hofft nun, dass wenigstens ab Freitag Klarheit herrscht.

Inzwischen sind in Borna die nächsten neun Flüchtlinge aus Irpin eingetroffen; der Chef eines örtlichen Autohauses hatte einen Bus gemietet und war nach Polen gefahren, begleitet von einer Mitarbeiterin der Stadt. Währenddessen organisieren in Borna Verwaltung, Kirchgemeinden, Unternehmer und Bürger Hilfe. Erste Spenden werden gesammelt, Unterkünfte organisiert. Die städtische Wohnungsgesellschaft sucht passende Wohnungen; Luedtke will sich mit Amtskollegen aus umliegenden Orten treffen: »Die Menschen aus Irpin sollen ja möglichst beieinanderbleiben können und nicht in der gesamten Republik zerstreut werden.«

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In deren Heimatstadt wütet derweil weiter Krieg. Russlands Regierung sei »schamlos bestrebt«, die Selbstbestimmung des ukrainischen Volkes und die territoriale Integrität des Landes zu zerstören, sagt Luedtke in einer Videobotschaft. Diese »völkerrechtswidrige Aggression«, fügt die Linkspolitikerin an, verurteile sie »aufs Schärfste«. Sie hofft, dass die internationale Gemeinschaft dem entschlossen entgegentrete. Borna werde derweil Menschen aus der Partnerstadt unterstützen, wo immer das möglich sei. »Unsere Freundschaft wird auch diese schweren Stunden überdauern«, sagt die Rathauschefin. Wann die nächsten Flüchtlinge kommen, weiß sie noch nicht; dass sie kommen, ist sicher: »Wir müssen spontan bleiben.«

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