nd-aktuell.de / 05.03.2022 / Sport / Seite 29

Ein Symbol der Absonderung

Die Paralympics 2008 in Peking brachten kaum Inklusionsfortschritte für Behinderte in China. Das werden die Winterspiele nun wohl auch nicht

Ronny Blaschke
Am Freitag wurden die Paralympischen Winterspiele 2022 von Peking im Vogelnest-Stadion eröffnet. China präsentierte sich bei der Zeremonie als Land der Inklusion.
Am Freitag wurden die Paralympischen Winterspiele 2022 von Peking im Vogelnest-Stadion eröffnet. China präsentierte sich bei der Zeremonie als Land der Inklusion.

Im Sport gibt es nur noch wenige Botschaften der Kommunistischen Partei Chinas, die im Westen unkritisch aufgegriffen werden. Eine davon: die Sommer-Paralympics 2008 hätten die Rechte von behinderten Menschen in der Volksrepublik gestärkt. Immer wieder verweist Peking auf den »Aufbruch« von damals, den Bau barrierefreier Infrastruktur in den Metropolen, die Verabschiedung von Gesetzen in Bildung und Gesundheitsvorsorge, die Etablierung des Behindertensports. Es ist eine Erzählung, die das Regime nun fortschreiben möchte, schließlich finden seit Freitag zum zweiten Mal in Peking Paralympics statt, dieses Mal in der Winterversion. Mehr als 560 Athleten aus 49 Nationen nehmen daran teil.

Stephen Hallett kann gut beurteilen, was sich hinter der Fassade verbirgt. Der britische Wissenschaftler hat lange in China gelebt und dort 2006 mit sehbehinderten Journalisten ein pädagogisches Radioprogramm aufgebaut. »Es sind damals in der Zivilgesellschaft interessante Netzwerke entstanden«, sagt Hallett. »Das hat zu einigen Fortschritten geführt. Doch leider haben die Behörden häufig auf den Rat von Menschen mit Behinderung verzichtet.«

Als Beispiel nennt er Blindenleitsysteme, die nicht gewartet wurden oder von Anfang an keinen Sinn ergaben. »Es wurde viel Geld für Baumaßnahmen ausgegeben, die am Ende nur wenigen Menschen zugute kommen.« Die Kommunistische Partei möchte stattdessen die paralympischen Erfolge für sich sprechen lassen. Mit Blick auf 2008 wurde in einem Vorort Pekings das weltweit größte Trainingszentrum für Behindertensportler errichtet. »Die Talentsichtung reicht von der nationalen Ebene über die Provinzen und Städte bis in Dörfer«, sagt der chinesische Medizinprofessor Wei Wang, der in Perth (Australien) lehrt: »Daran beteiligt sind Krankenhäuser, Wohltätigkeitsorganisationen und Schulen.« Die Folge: Seit 2004 in Athen dominiert die Volksrepublik den Medaillenspiegel der Sommer-Paralympics - bei keinem anderen Sportereignis kann sie ihre politischen Rivalen so weit hinter sich lassen.

Chinas Regime deutet diese Überlegenheit als Sinnbild für die Fürsorge des Sozialstaates. »Tatsächlich haben die Paralympics in China aber wenig Einfluss auf die Bevölkerung«, sagt Stephen Hallett, der an der Universität Leeds forscht. »Im Gegenteil: sie sind ein Symbol für Absonderung.« Athleten, die für den Spitzensport rekrutiert werden, müssen monatelang in spartanischen Trainingszentren verbringen, weit entfernt von ihren Familien und Freunden. »Wer es nicht an die Spitze schafft, der wird vom System wieder ausgespuckt«, sagt Hallett. »Auch Medaillengewinner erhalten nach ihrer Laufbahn wenig Unterstützung. Einige leiden mittlerweile unter Depressionen.«

Die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung ändert sich in China eben nur langsam - auch wegen jahrhundertealter Traditionen. Im Konfuzianismus gelten gesunde und »produktive« Kinder als ideal, weil sie ihre Vorfahren pflegen und die Familienlinie fortschreiben können. Im ebenfalls einflussreichen Buddhismus gilt eine Behinderung mitunter als Strafe für ein früheres Leben. In der jüngeren Geschichte haben radikale politische Umwälzungen wie die Kulturrevolution Millionen Menschen mit einer Behinderung hervorgebracht. Aktuell sind es auch Umweltschäden und frühere Abtreibungen als Folge der Ein-Kind-Politik, die sich auf die Gesundheit auswirken.

Laut einer Volkszählung von 2006 leben in China mehr als 80 Millionen Menschen mit einer Behinderung, aktuellere Zahlen gibt es nicht. Drei Viertel von ihnen leben auf dem Land, fernab der modernen Metropolen, fernab der prestigeträchtigen Medaillenproduktion. »Die Regierung hat zu wenig dafür getan, den Sport als Teil der Gesundheitsvorsorge und der Rehabilitation zu etablieren«, sagt Hallett.

»Die Paralympics können nur ein Anstoß sein«, sagt Andrew Parsons, Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees IPC. »Der gesellschaftliche Wandel kann Jahrzehnte dauern.« Immer wieder hat es Rückschläge gegeben. Nach den Sommer-Paralympics 2000 in Sydney erweiterte die australische Regierung die Bauvorgaben für Barrierefreiheit, aber die Sportförderung wurde zurückgefahren. Im Winter 2014 in Sotschi galten die Sportstätten als Musterbauten, doch fernab der russischen Metropolen sind behinderte Menschen in der Gesundheitsvorsorge und bei der Jobsuche weiter im Nachteil. Vor den Sommerspielen in Rio 2016 erarbeitete die brasilianische Regierung ein differenziertes Antidiskriminierungsgesetz, in den Favelas jedoch können behinderte Menschen wegen fehlender Hilfe häufig ihre Wohnungen nicht verlassen.

In westlichen Gesellschaften hat sich das Konzept der Inklusion durchgesetzt, die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Im Sport würde das bedeuten, dass Athleten mit und ohne Behinderung von den gleichen Sportstätten, Prämienregeln und Fortbildungen profitieren. In China sei man davon noch weit entfernt, sagt Stephen Hallett. Auch, weil die Regierung unter Xi Jinping kaum noch für Empfehlungen aus der Zivilgesellschaft empfänglich ist.

Inhaltlich wird das Thema durch den staatsnahen Behindertenverband dominiert, gegründet 1988 von Deng Pufang, dem Sohn des Reformers Deng Xiaoping. »Diese Organisation ist relativ verschlossen und beschäftigt nur wenige Mitarbeiter mit einer Behinderung«, sagt Hallett. Der Verband unterstützte in den vergangenen Jahren die Suche nach paralympischen Trainern und Technikexperten aus Europa. China soll schließlich auch bei den Winter-Paralympics an die Spitze vorstoßen. Die Effekte für behinderte Menschen ohne Medaillenchancen dürften sich damit jedoch in Grenzen halten.