nd-aktuell.de / 14.03.2022 / Kultur / Seite 13

»Schweigt jetzt nicht«

Viele russische Künstler*innen sprechen sich gegen den Krieg in der Ukraine aus - und zeigen damit, dass ein Boykott russischer Kultur verheerende Folgen hätte

Norma Schneider

In den ersten Tagen nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine sind Forderungen laut geworden, russische Kultur zu boykottieren. Der PEN Ukraine rief dazu auf, keine Bücher russischer Autor*innen mehr zu vertreiben, um dem »russischem Narrativ« keinen Raum zu geben. Doch die Reaktionen des russischen Kulturbetriebs auf den Krieg geben keinen Anlass für einen Generalverdacht.

Viele Künstler*innen, Schriftsteller*innen und Musiker*innen - auch solche, die sich sonst mit politischen Aussagen zurückhalten - haben den Wunsch, sich zu positionieren. Die meisten, um ihrer Erschütterung Ausdruck zu verleihen und ihre Solidarität mit der Ukraine zu erklären. Andere, weil sie keinen Zweifel an ihrer Loyalität zur russischen Regierung aufkommen lassen wollen. Vor allem Künstler*innen, die sowohl in Russland als auch im Ausland arbeiten, sind nun gezwungen, öffentlich zu machen, auf welcher Seite sie stehen.

Für diejenigen, die in Russland oppositionelle Kunst machen, hat sich die Lage in den letzten Tagen dramatisch verschlechtert. Vor dem Beginn der Invasion war Gegenkultur in Russland zwar mitnichten ungefährlich, aber es waren Nischen vorhanden, es gab Möglichkeiten, Räume, die erkämpft und verteidigt wurden. Diese Spielräume sind nun dabei, sich zu schließen. Sie werden vielleicht für Jahre geschlossen bleiben.

Kritischen Künstler*innen bleiben letztlich drei Möglichkeiten: nur noch unpolitische Kunst zu machen, das Land zu verlassen oder ein hohes persönliches Risiko einzugehen. Letzteres kann Jobverlust und bis zu 15 Jahre Gefängnis bedeuten. Das ist die Höchststrafe, die das neue Mediengesetz für Äußerungen vorsieht, die von der Kreml-Version der aktuellen Ereignisse abweichen - also den Krieg als solchen zu bezeichnen und nicht als Friedensmission oder »Spezialoperation«. In den sozialen Medien finden sich täglich neue Posts von Künstler*innen und Aktivist*innen, die Russland verlassen haben, weil sie für sich keine Zukunft mehr im Land sehen.

Selbst Kulturschaffende, die komfortable Positionen in staatlichen Institutionen innehaben, fühlen sich nicht in der Lage, unter diesen Umständen weiterzumachen. So trat die Leiterin des staatlichen Meyerhold-Theaters in Moskau, Elena Kovalskaya, bereits am ersten Tag des Angriffs von ihrem Posten zurück und schrieb auf Facebook: »Man kann nicht für einen Mörder arbeiten und von ihm bezahlt werden.«

Auf der Biennale in Venedig wird es in diesem Jahr keinen russischen Pavillon geben. Die Künstler*innen Alexandra Sukhareva und Kirill Savchenkov zogen sich zurück, wohl wissend, dass damit ihre künstlerische Karriere in Russland beendet sein dürfte. Auf Facebook schrieben sie: »Es gibt keinen Platz für Kunst, wenn Zivilisten unter dem Beschuss von Raketen sterben, wenn sich ukrainische Bürger in Bunkern verstecken und wenn russische Demonstranten zum Schweigen gebracht werden.« Der Beitrag ist mittlerweile nicht mehr aufrufbar.

Bereits kurz nach Beginn des Angriffs auf die Ukraine wurde ein offener Brief gegen den Krieg ins Netz gestellt, der innerhalb weniger Tage von rund 18 000 russischen Künstler*innen und Kulturschaffenden unterzeichnet wurde. Die große Zahl zeigt, dass nicht nur diejenigen, die bereits zuvor offen Kritik an Putin geäußert haben, bereit sind, öffentlich Stellung zu beziehen. Im Brief wird der Krieg gegen die Ukraine als Tragödie bezeichnet. Neben dem Verlust an Menschenleben wird die durch den Krieg verursachte internationale Isolation Russlands beklagt, die auch die Kulturschaffenden direkt betreffen wird: »Alles, was in den letzten 30 Jahren auf kultureller Ebene erreicht wurde, ist nun in Gefahr. Es wird fast unmöglich sein, unter solchen Umständen Kunst und Kultur zu betreiben.«

Der Brief wurde unter anderem auf der Website von »Spectate«, einem Onlinemagazin für Gegenwartskunst, veröffentlicht. Dort heißt es nun nur noch: »Hier stand ein offener Brief von Kunst- und Kulturschaffenden mit ihrer Meinung zur ›militärischen Sonderaktion‹ (auf Wunsch des Staates können wir es nicht mehr anders nennen).« Um die Unterzeichner*innen nicht zu gefährden, wurden der Brief und die Unterschriften gelöscht.

Die »Moscow Times« berichtet von Personen, die ihre Arbeit verloren haben, weil sie den Brief unterzeichnet haben. Informationen darüber, dass es diesen offenen Brief überhaupt gegeben hat, findet man nur in den wenigen verbliebenen freien Medien, die unter widrigsten Umständen weiterarbeiten.

In den staatlich kontrollierten Medien dagegen erfährt man nur von einem offenen Brief, der Unterstützung für Putin ausdrückt: »Die Führung der Russischen Föderation hat die einzig richtige Entscheidung getroffen«, heißt es darin. 105 Kulturschaffende sollen den Brief unterschrieben haben.

Für etablierte Künstler*innen, die auch außerhalb Russlands bekannt sind oder sogar einen Wohnsitz im Ausland haben, ist es leichter, sich offen kritisch zu äußern. International gelesene Schriftsteller*innen aus Russland haben Beiträge in großen europäischen Zeitungen geschrieben, die sich gegen den Krieg richten. Ljudmila Ulitzkaja drückt ihre Bestürzung aus: »Ich dachte immer, meine Generation, die während des Zweiten Weltkriegs geboren wurde, hätte Glück gehabt, wir würden ohne Krieg weiterleben … Wir müssen diesen eskalierenden Krieg stoppen und uns den propagandistischen Lügen entgegenstellen, die durch die offiziellen Medien auf unsere Bevölkerung einströmen.«

Wladimir Sorokin und Dmitry Glukhowsky analysieren in ihren Beiträgen die Hintergründe des Krieges und Putins Absichten sehr kritisch. Bestsellerqutor Glukhowsky, der vor allem für die dystopische »Metro«-Trilogie bekannt ist, äußert sich auch in den sozialen Medien deutlich. Er postet Bilder von den zerstörten Städten in der Ukraine, prangert Putin als Aggressor an und schreibt: »Russische Militärzensur - fick dich!« Trotz des neuen Gesetzes löscht er seine Beiträge nicht, während viele andere kritische Statements wieder aus den sozialen Medien verschwunden sind.

Doch auch einige Musiker*innen formulieren weiter öffentlich ihre Kritik. Boris Grebenschtschikow etwa, Sänger der Band »Aquarium«, der zu den Rockgrößen der Perestroika-Zeit gehört und noch immer Musik macht, schrieb auf Facebook: »Dieser Krieg ist wahnsinnig und eine Schande für Russland.« Der erfolgreiche Rapper Oxxxymoron sagte sechs ausverkaufte Konzerte in Russland ab: »Ich kann euch nicht unterhalten, wenn russische Raketen auf die Ukraine abgefeuert werden, wenn die Bewohner von Kyiv sich in Kellern und der Metro verstecken müssen, wenn Menschen sterben«, erklärte er in einem Video auf Instagram.

Auch die in der Subkultur verwurzelte Goth-Elektroband IC3PEAK sagte ihre Konzerte in Russland ab. Es sei nicht sicher aufzutreten, »weil wir eine klare Position gegen den Krieg haben«, teilte sie mit. Sie ruft dazu auf, gegen den Krieg zu protestieren und Widerstand zu leisten. Die Sängerin Manizha dagegen, die im vergangenen Jahr mit einem feministischen Lied für Russland beim ESC antrat und die konservative russische Öffentlichkeit vor den Kopf stieß, drückt sich auf Instagram deutlich vorsichtiger aus und benennt den Krieg nicht als solchen. Sie schließt ihr Statement erklärend mit den Worten: »Wir alle müssen jetzt sehr vorsichtig sein … Jetzt kann jede falsche Bewegung oder jedes falsche Wort tödlich sein.«

Einige Künstler*innen haben auch eigene Telegram-Kanäle gegründet, um sich frei über die aktuellen Ereignisse auszutauschen. Der beliebte oppositionelle Sänger Vasya Oblomow teilt und kommentiert in seinem Kanal Nachrichten über den Krieg. Er hat ein Video hochgeladen, das einen russischen Polizisten zeigt, der die in den Schnee geschriebene Parole »Kein Krieg« mit dem Fuß verwischt. Dazu schreibt der Sänger: »Dieses Video fasst die gesamte jüngere Geschichte Russlands zusammen: Der Polizistenstiefel radiert die friedliche Botschaft aus.«

Dass sich auch Pussy Riot gegen den Krieg positioniert haben, ist keine Überraschung. Auf dem von Nadeschda Tolokonnikowa bespielten Twitter-Account des Protestkollektivs hieß es: »Putin ist ein irrer, böser Clown, durstig nach Blut.« Außerdem versteigerte sie digitale Unikate, »Non Fungible Tokens« (NFT) genannt, und half, eine Plattform ins Leben zu rufen, über die laut »Time Magazine« innerhalb einer Woche über 30 Millionen Dollar Spenden für die Ukraine gesammelt werden konnten. Auch die russische Künstlerin Olive Allen beschloss, den Hype um NFT zu nutzen, um zu helfen. Sie schrieb auf Twitter: »Ich habe meinen Pass verbrannt, weil ich nicht an Putins Russland glaube und den Krieg in der Ukraine nicht unterstütze.« Das NFT vom brennenden Pass versteigerte sie für vom Krieg Betroffene in der Ukraine.

Das in Moskau lebende Pussy-Riot-Mitglied Masha Alekhina meldete sich mit Anti-Kriegs-Posts auf Instagram, die letzten davon aus Zelle Nr. 6, wo Alekhina gerade 15 Tage Arrest absitzt: »Gestern wurde ja ›Echo Moskwy‹ abgeschaltet, und hinter Gittern ist das Radio die einzige Möglichkeit, sich zu informieren. Wir lassen uns nicht entmutigen, wir haben gestern die ganze Nacht versucht, einen ausländischen Sender zu finden. Stellt euch vor: Fünf Leute, die in ihren Kojen sitzen, über einen Empfänger gebeugt, aus dem chinesische Volksmusik ertönt. Wir scherzten, dass bald das ganze Land wie unsere Zelle sein würde. Habt also keine Angst und schweigt jetzt nicht.«

Dass Schweigen für viele Kulturschaffende in Russland keine Option ist, haben sie laut und deutlich gezeigt. Forderungen, russische Kultur jetzt unterschiedslos zu boykottieren, sind ein Schlag ins Gesicht für diejenigen, die sich unter großer Gefahr gegen den Krieg und Putins Regime wenden. Gerade jetzt sollten wir uns die Arbeiten oppositioneller Künstler*innen aus Russland ansehen und die Bücher kritischer russischer Schriftsteller*innen lesen. Sie betrachten die politischen Entwicklungen seit Jahren genau und können uns helfen zu verstehen, wie es so weit kommen konnte. Wir sollten ihnen zuhören und sie mit offenen Armen empfangen, wenn sie ins Exil gehen. Und wer weiß, vielleicht bekommen sie eines Tages die Gelegenheit mitzuhelfen, ein anderes, freieres Russland aufzubauen.