nd-aktuell.de / 23.03.2022 / Kultur / Seite 13

Fisch sucht Netz

Warum die Petersburger Band Shortparis sowjetische Ästhetik für ihre Antikriegsmessage nutzt

Ewgeniy Kasakow

Zehntausend Rubel muss Nikolai Komjagin nun zahlen. Eine vergleichsweise milde Strafe für die Teilnahme an einer nicht genehmigten Friedensdemonstration Ende Februar für den Kunsthistoriker und Museumspädagogen, der vor allem als Sänger der Petersburger Band Shortparis bekannt ist. Doch der eigentliche Beitrag zur Antikriegsbewegung seiner Band kam erst vor einer Woche in die Öffentlichkeit: per Videoclip »Jablonnyj sad« (Apfelgarten), produziert zu einem Lied gleichen Titels, das bereits auf einem im vergangenen Sommer erschienenen Album der Band enthalten ist. Es wurde zusammen mit dem Fjeodor-Kozlow-Veteranenchor aufgenommen. Auf einem verschneiten Feld stehen ergraute, hochdekorierte Männer in ihren Paradeuniformen und begleiten die eindringliche Interpretation von Komjagin. Wie alle Texte der 2012 gegründeten Band, deren Genreetikettierung kaum ohne ein vorangestelltes »Post« auskommt - Postindustrial, Post-Dark-Wave, Post-Pop - ist dieser reich an Andeutungen und Zweideutigkeiten.

Die aus dem westsibirischen Nowokusnezk vor über zehn Jahren nach Sankt Petersburg gezogenen Bandmitglieder beherrschen die Kunst der Ambivalenz auf die Spitze zu treiben. Das 2018 erschienene Video »Strashno« (Furchterregend) zeigt das heutige Russland aus der Perspektive der zentralasiatischen »Gastarbeiter« (eine jüngste Wortübernahme aus dem Deutschen ins Russische). »Es schminken sich deren Frauen, deren Kinder verstecken sich vor dir ängstlich«, kritisiert Komjagin in jenem Video, während seine kahlköpfigen Bandkollegen mit bedrohlichen Gesichtsausdrücken eine Schulturnhalle betreten, in der Migranten in Arbeitskleidung schlafen. Die Untertitel in arabischer Sprache und die androgyne Tanzperformance dürften die Verwirrung der Zuschauer noch steigern. Zudem erschien das Video kurz nach einem Amoklauf in einer russischen Schule, was eine Überprüfung von dessen kritischem Inhalt auf »extremistische Propaganda« durch die staatlichen Behörden nach sich zog. Die Fremdenfeindlichkeit anprangernden Bilder erschienen jenen zu »furchterregend«.

In einem anderen Song mit dem Titel »Hier spricht Moskau«, der eine tägliche Rundfunknachricht während des Großen Vaterländischen Krieges adaptiert, greift Shortparis im Refrain das Marschlied »Le Boudin« (Blutwurst) auf, Hymne französischer Fremdenlegionäre. Und in einem Clip über das Elend in den »Schlafbezirken« russischer Städte bauten sie eine Parole der 68er ein: »Les structures ne descendent pas dans la rue« (»Strukturen gehen nicht auf die Straße«). Shortparis wird häufig vorgeworfen, mit radikalen Gesten zu kokettieren, die Band hält sich allerdings mit plakativen Statements eher zurück. Als Komjagin aber 2017 bei einem Festival abfällige Bemerkungen der Veranstalter über die beim Bühnenaufbau tätigen Arbeitsmigranten registrierte, teilte er danach seinen Unmut darüber öffentlich auf der Bühne mit und verkündete mit Hilfe eines Online-Übersetzungsprogramms auf Kirgisisch, an die Adresse der Diffamierten gerichtet: »Heute spielen wir für euch.« Das mag als ein nicht sehr wirkungsmächtiger Protest erscheinen, war dennoch ein starkes Moment der Solidarität mit den »Arbeitssklaven« und hat mit dazu beigetragen, dass die inzwischen auch im Ausland bekannte Band den Ruf hat, eine der politisch relevantesten in Russland zu sein.

In der Mehrdeutigkeit ihrer Texte und Videos beerbt Shortparis in gewisser Weise die deutschsprachige Rock- und Punkband Fehlfarben mit ihren lyrischen Song »Militürk« wie auch die slowenische Gruppe Laibach (»Geburt einer Nation«). Das »Jablonnyj sad«-Video der Petersburger Künstler ist vor allem zu einem Ereignis avanciert, weil es den Krieg antizipierte. Während die Kritiker von Putins Politik in Russland wie auch im Westen häufig dessen Berufung auf die sowjetische Vergangenheit als Beweis nehmen, Nostalgie sei der eigentliche Auslöser des Krieges gewesen, bezieht sich Shortparis explizit auf sowjetische Ästhetik, etwa mit Orden, Uniformen, rotem Banner und rotem Stern sowie Chorgesängen zu Akkordeonmusik, und wendet dies demonstrativ gegen die Mobilisierung zum Krieg. Die Band erinnert an die Jahrzehnte, in denen Russland und die Ukraine sich nicht als zwei feindliche Republiken gegenüberstanden. Die gemeinsame Vergangenheit kann vor Bedrohungen der Gegenwart nicht schützen. An die Sprache von Volksliedern anknüpfend, erklingt - während im Schnee ein Grab ausgehoben wird - die Klage: »Oh, mein Kummer/... Wo ist die Grenze, wo der Rand? / Wer hat es gesehen/ Und wohin gehörst du jetzt?« Hinweis auf das »Land am Rand«, »u kraja«, und die offizielle Leugnung der Präsenz der russischen Truppen (»sie waren nie dort gewesen«) seit 2014. Weiter heißt es hier: »Das große Land schläft/ Wie ewig erscheint der Abend / Über die Kathederale von Kreml/ Geht ein Windstoß.« Die Stimme des jungen Sängers vibriert voll innerer Unruhe und Sorge, während der Veteranenchor gefasst erscheint. Ein unheimlicher Kontrast. Die Zukunft verheißt nichts Gutes: »Fisch sucht nach Netz/ Körper sucht nach Ereignissen/ Geschoss wird intelligenter/ Im Verlauf des Blutvergießens … Wohin schlängelt die Schlange?«

Shortparis hat keinen klassischen Protestsong geschrieben. Geschrieben vor der russischen Invasion in die Ukraine wird das Bild eines im Blut versinkenden Apfelgarten visioniert. Dass der einst idyllische Ort wie das Paradies von Adam und Eva verloren ist, steht für Shortparis fest. Keine optimistische Aussicht. Dafür besteht derzeit aber leider auch kein Anlass.