nd-aktuell.de / 01.04.2022 / Kommentare / Seite 8

Tabuzone Tempolimit

HEISSE ZEITEN - Die Klimakolumne: Die Verweigerung einer Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen ist ein Affront der »Generation Auto« gegen die »Generation Klima«

Clara S. Thompson

Seit Mittwoch gilt in Deutschland die Frühwarnstufe für einen drohenden Gasmangel[1]. Ein ernst dreinblickender Robert Habeck sagte dazu, jede eingesparte Kilowattstunde Energie helfe, weshalb der Appell an private Verbraucher*innen ergehe, »dass sie Deutschland helfen, dass sie der Ukraine helfen, wenn sie Gas oder Energie einsparen.«

Weltweit stehen alle Zeichen auf: Handeln. Auch Deutschland will so schnell wie möglich unabhängig von russischem Öl und Gas werden. Viele deutsche Gashändler wollen ihre Verträge mit Russland auslaufen lassen. Auf der Suche nach alternativen Energiequellen verhandelt Wirtschaftsminister Habeck mit Katar[2] und den USA.

Aber tut Deutschland wirklich alles, um unabhängig von russischem Gas und Öl zu werden? Abgesehen davon, dass es fragwürdig erscheint, in diesen Zeiten einfach die Abhängigkeit von einem autokratischen Regime (Russland) zum nächsten (Katar) auszutauschen, ist bei einem Blick in das Entlastungspaket sowie bei den letzten Talkshow-Auftritten von Politiker*innen aus Regierungskreisen eine gähnende Leere hinsichtlich eines Punktes festzustellen: Alles, was mit dem deutschen Auto zu tun hat - Tempolimits, autofreie Sonntage[3] usw. -, fehlt in den von der Bundesregierung verabschiedeten Maßnahmen zur Reduzierung der Abhängigkeit von Russland.

Dabei wäre ein Limit bei Tempo 100 auf Autobahnen effektiv: Es würde in einem Jahr zwei Millionen Tonnen Sprit einsparen. Das sind mehr als zwei Prozent der deutschen Mineralölimporte. Dass ein Tempolimit nicht abwegig ist, bewies die Ölkrise im Winter 1973/74, als zum Zweck der Treibstoffeinsparung in der Bundesrepublik ein generelles Tempolimit von 100 Stundenkilometer auf Autobahnen galt. Was damals ein denkbarer Teil des politischen Maßnahmenkatalogs war, scheint heute eine rote Linie für viele Politiker*innen darzustellen. Einige ukrainische Politiker*innen folgern nun, und ich kann es ihnen nicht verübeln: Deutschland ist die Tempofreiheit auf der Autobahn wichtiger als der Krieg in der Ukraine.

Vielen ist die Erklärung für dieses Phänomen klar und beinhaltet drei Buchstaben: FDP. Die Liberalen scheinen die Partei der Autofahrer*innen zu sein. Die FDP blockiert die einfachsten Maßnahmen zur Verbrauchsminderung mithilfe Auto-bezogener Maßnahmen wie des Tempolimits oder autofreie Sonntage.

Aber die Antwort auf die Frage nach dieser deutschen Dissonanz bezüglich des Autos geht noch tiefer. Wir befinden uns inmitten eines Kulturkampfes um das Auto - und das schon seit Jahren. Dieser begann mit dem Aufbau der Automobilindustrie zur Wirtschaftsmacht in Deutschland - heute macht der Automobilsektor etwa zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Viel Wirtschaftsmacht bedeutet viele machtvolle Wirtschaftsvertreter*innen, die Druck auf die Regierung ausüben können, selbst in Kriegszeiten. Es heißt aber auch, dass das Auto aufgrund seiner Bedeutung für die Volkswirtschaft und als Symbol für Freiheit und Unabhängigkeit eines der beliebtesten materiellen Güter der Deutschen geworden ist.

Heute werden vorgeschlagene Alternativen zur Autoabhängigkeit aus der Zivilgesellschaft, wo immer möglich, ausgebremst - ob es die gewaltsame Räumung der Besetzung gegen die A49 in Hessen ist oder die Entscheidung, in die Planung für den Weiterbau der A100 in Berlin[4] einzusteigen. Und das, obwohl im Ampel-Koalitionsvertrag beschlossen wurde, erst den Bundesverkehrswegeplan zu überarbeiten. In diesem Kontext lässt sich auch die beschämende Vernachlässigung des Ausbaus der Schieneninfrastruktur der letzten Jahre nennen. Egal, wohin man sieht: Das Auto soll sich durchsetzen.

Das Tempolimit ist längst zum Politikum geworden - zum gesellschaftlichen Symbol für den Affront, den die »Generation Auto« der »Generation Klima« gegenüber empfindet. Hier werden zwei Freiheitsbegriffe gegeneinander ausgespielt - Freiheit durch Tempo 200 auf der Autobahn oder Freiheit dadurch, dass ein Tempolimit zu mehr Sicherheit im Straßenverkehr und zur Resourcenschonung führt sowie zu einer lebenswerten Zukunft für alle beiträgt. Aber dass selbst der Frieden in Europa in diesem Kulturkampf um das Auto in Deutschland keine Rolle spielt, hätten wohl die abgebrühtesten sozialen Beobachter*innen nicht gedacht.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1162602.ukraine-krieg-bei-gas-aus-russland-droht-lieferstopp.html?sstr=Fr%C3%BChwarnstufe
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1162296.robert-habeck-keine-energiewende-in-der-aussenpolitik.html?sstr=Katar
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1162147.ukraine-krieg-autofreie-sonntage-fuer-den-frieden.html?sstr=Tempolimit
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1162584.ausbau-der-a-monsterplanungen-wider-willen.html?sstr=A100