nd-aktuell.de / 02.04.2022 / Reise / Seite 30

777 Kilometer bis zum Atlantik

Kreidefelsen, Calvados und Seerosen: Eine Kreuzfahrt auf der Seine von Paris bis Le Havre und zurück

Christiane Flechtner

Von oben sieht sie aus wie ein blaues Geschenkband, das in großen Schwüngen die Landschaft verschönert. Das Grün außen schmiegt sich ans blaue kurvige Nass. Die Seine ist einer der größten Flüsse Frankreichs: Knapp 777 Kilometer misst sie von ihrer Quelle bis hinunter zu den alabasterfarbenen Kreidefelsen am Atlantik. Dabei ist sie quasi im Zeitlupentempo von rund zwei Kilometern pro Stunde unterwegs. Zeit genug, um die eindrucksvolle Region mit ihrer ursprünglichen Natur und den am Fluss liegenden Dörfern und kleinen Städten zu erleben.

Start der kleinen Kreuzfahrt auf der MS »Seine Comtesse« beginnt in der Stadt der Liebe - mitten in Paris. Die Leinen werden eingeholt, das Schiff löst sich vom Ufer. Flussabwärts führt der Weg. 13 Kilometer bahnt sich der Fluss seinen Weg durch die Hauptstadt, vorbei an Notre Dame und Eiffelturm und unter der berühmten Brücke Pont Neuf hindurch. Hier ist das Seine-Ufer Teil des Weltkulturerbes der Unesco. Für die MS »Seine Comtesse« verabschiedet sich Paris am Abend mit einer Lichtershow: Im Dunkeln leuchten die Straßenlaternen, Häuserfassaden und der Eiffelturm um die Wette. Doch es wird schnell dunkel, als wir die französische Hauptstadt hinter uns lassen. Am Flussufer heben sich große Bäume als Schattenriss vor dem sternenklaren Himmel ab. Ein leichtes Plätschern und kleine Wellen begleiten die sanfte Fahrt in Richtung Atlantik.

Doch auch wenn das Schiff in Paris in See sticht - bis dorthin hat die Seine schon eine ganze Strecke zurückgelegt: Sie entspringt in der Region Bourgogne-Franche-Comté in der Nähe von Dijon auf dem bewaldeten Plateau von Langres - einem der größten Wasserspeicher Zentralfrankreichs. Ihre Quelle in 471 Metern Höhe gilt als heilig: In einem Pinienwäldchen stoßen Besucher auf eine Grotte mit einer Statue der gallorömischen Flussgöttin Sequana, von der sich auch der Name des Flusses ableitet. Im Altertum erstreckte sich hier ein großer Tempelbezirk, das Wasser hatte angeblich heilende Kräfte.

Morgens, drei Flussschleifen vor Rouen, erheben sich weiße Felsen aus der grünen Landschaft. Wie ein Film zieht die schöne Landschaft des »Parc naturel régional des Boucles de la Seine Normande« - zu Deutsch der »regionale Naturpark Schleifen der Seine« - am Fenster vorbei, bevor das 114 Meter lange Schiff mit seinen 134 Passagieren in Rouen den ersten Stopp einlegt. Man kann hier gut erkennen, dass die Normandie über Jahrhunderte zu den reichsten französischen Regionen gehörte. »Davon zeugt noch heute die mächtige gotische Kathedrale Notre Dame im Herzen von Rouen mit dem höchsten Kirchturm von ganz Frankreich«, erklärt die französische Stadtführerin Catherine Brandon Delattre und fügt hinzu: »Die Stadt der Gotik, der hundert Kirchen und tausend Fachwerkhäuser entstand als Hafenstadt zur Römerzeit vor 2000 Jahren und diente über Jahrhunderte als wichtiger Überseehafen, vor allem für den Getreidehandel.«

Ein bemerkenswerter historischer Schatz befindet sich in der belebten Rue de Gros-Horloge: Schon von Weitem strahlt die große astronomische Uhr in einem Renaissance-Torbogen. Der angrenzende Glockenturm aus dem 14. Jahrhundert beherbergt den Mechanismus der Uhr. Das noch heute intakte Uhrwerk aus dem Jahre 1389 funktionierte bis 1928 ununterbrochen und gilt als eines der ältesten in Frankreich.

Geht man weiter, kommt man unweigerlich zum Alten Marktplatz, der mit der grausigen Vergangenheit Rouens unweigerlich verknüpft ist: Johanna von Orleans ist in Rouen zum Tode verurteilt und hier 1431 auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Still ist es hier - sogar die Vögel haben aufgehört zu zwitschern. Das Kreuz legt seinen Schatten über die Stadt und ist Mahnmal für die grausame Tat. »Dieses große Kreuz hier am Alten Markt kennzeichnet den Ort der Verbrennung«, erklärt die Stadtführerin und fügt hinzu: »Und direkt daneben wurde 1971 zur Erinnerung an die französische Nationalheldin die moderne Kirche Ste.-Jeanne-d’Arc erbaut.«

Als das Schiff in der wärmenden Nachmittagssonne ablegt und weiter flussabwärts fährt, hängt jeder der Passagiere seinen Gedanken nach. In der stillen Naturlandschaft wechseln sich lichte Wälder mit Mooren und Streuobstwiesen ab, mehr als 70 Dörfer und zahlreiche Klöster und Abteien verteilen sich entlang des Ufers, es drehen sich Wind- und Wassermühlen. In dieser Region hat sich die Seine in weit ausholenden Mäandern in das Kalkplateau eingegraben und bildet zahlreiche Schlingen, die vor allem Vögeln Lebensraum bieten. Angler sind am Ufer nicht zu sehen - was daran liegt, dass die Seine immer noch ein recht schmutziges Gewässer ist.

Wo sich die Trichter der Seinemündung öffnen, befindet sich die von den Normannen gegründete Stadt Honfleur. Sie ist nicht nur ein Augenschmaus, wie bereits zahlreiche Maler wie Monet, Renoir oder Cézanne im 19. Jahrhundert auf ihren Staffeleien festhielten. Auch für Feinschmecker hält Honfleur einiges bereit. Ob Karamellbonbons, Cidre oder gar der leckere Apfelbrand Calvados - wer mag, kann probieren ...

Wir schlendern durch die kleinen Gassen mit Kunsthandwerk und kulinarischen Köstlichkeiten und machen Pause am Vieux Bassin, dem im 17. Jahrhundert angelegten Alten Hafen. Pittoresk spiegeln sich die sechsstöckigen bunten Häuser samt Fischerbooten und kleinen Jachten im Hafenbecken. Maler haben sich schon platziert, um dieses Motiv festzuhalten.

Blau trifft Strahlendweiß in Etretat: Rund 100 Meter ragen die hohen Kreidefelsen der so genannten Alabasterküste an dem kleinen Badeort in den Himmel. Ein kurzer Spaziergang auf das »Dach der Steilküste« - und dann ist der Blick frei auf ein von der Natur geschaffenes einzigartiges Kunstwerk. Wind und Wellen haben mächtige Öffnungen und Tore in die weißen Felsen gewaschen, durch die sich nun Kajakfahrer einen Weg auf dem türkisblauen heute ruhigen Meer bahnen. Die Farben wirken so kräftig, aber sie sind echt. Wir genießen diese besondere Kulisse mit der 70 Meter hohen Felsnadel »Aiguille« und dem Brückenbogen »Arche« im Vordergrund und können gut verstehen, dass ebenso wie in Honfleur auch hier Künstler wie Claude Monet diese besondere Landschaft gemalt und sie durch ihre Bilder berühmt gemacht haben.

Wir wollen nicht nur die Kreidefelsen bewundern, die Monet gemalt hat, sondern auch seine bekannten Seerosen. Diese befinden sich auf seinem Grundstück in Giverny. Wir besuchen das Haus, in das der Impressionist 1883 zog und in dem er 43 Jahre lang bis zu seinem Tod lebte. Anschließend wandern wir durch den verwunschenen Garten mit seinem Seerosenteich und der japanischen Brücke sowie den exotischen und einheimischen Blumen. Es ist noch leer, sind wir doch früh vor den vielen Reisebussen angekommen, die sich später am Tag durch die kleinen Wege hindurchschieben werden. Am Abend herrscht eine ganz besondere Stimmung an Bord, denn Chansonsänger Fabrice Thierry und Pianist Bruno Harel geben Lieder von Aznavour, Brel und Montand zum Besten. Auf dem Rückweg der Flusskreuzfahrt steht Paris auf dem Programm. An Deck weht eine sanfte Brise, der Eiffelturm grüßt wie ein alter Bekannter. An der Basilika Sacré-Coer nehmen wir Abschied, die Stadt zu Füßen.