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  • Charles Mingus und Jazz

Ängstlich, sanft und vertrauensvoll

Vor 100 Jahren wurde Charles Mingus geboren, Vertreter des klassischen Jazz und Wegbereiter des Free Jazz

  • Robert Mießner
  • Lesedauer: 6 Min.
Ein Meister des klassischen und modernen Jazz: Charles Mingus
Ein Meister des klassischen und modernen Jazz: Charles Mingus

Mit anderen Worten: ich bin drei«, sagt Charles Mingus in seiner Autobiografie »Beneath The Underdog«. Mingus, Kontra-Bassist und Komponist, Pianist und gelegentlicher Sänger, wird in seinem Buch mit mehreren Namen gerufen: Chazz und Cholly, Mingus Fingers, Minkus oder Charles der Dritte, aber: »Bitte nicht Charlie. Ich bin ganz bestimmt kein Charlie.« Dass da jemand spielerisch mit sich selbst umgehen kann, gerade weil er es sich nicht leicht macht mit der Frage nach der Identität, mit der es ihm andere ebenso schwer machen, darauf weisen bereits die Titel mehrerer seiner Jazzkompositionen hin: »Myself When I Am Real«, »My Search« oder »Self-Portrait In Three Colors«.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Charles Mingus, der heute vor 100 Jahren, am 22. April 1922 in Nogales, Arizona, geboren wurde, kam aus einem Elternhaus mit mütterlicherseits englischen und chinesischen, väterlicherseits schwarzen und schwedischen Wurzeln. Er war ein hellhäutiger Mischling, der dünnhäutig reagieren konnte, wo er Ausgrenzung und Unterdrückung witterte. Das Kind wurde »Nigger« oder »gelbes Miststück« gerufen, der Musiker und Komponist hingegen verstand es, diesen Affront in einen Triumph zu verwandeln, als er eines seiner klassischen Alben in einem stolzen Wortspiel »Mingus Dynasty« nannte.

Die 1959 erschienene Platte ist eine von vielen möglichen Einstiegen in seine umfangreiche Klangwelt. Ausgehend von der Jazzstilistik Hard Bop, gilt Mingus als Vertreter des in weitestem Sinne Modern Jazz. Der euphorische wie melancholische Mingus-Sound speist sich aus Blues, Gospel und klassischer Musik, hat Swing und Wucht in sich und bereitete Eruptionen des Free Jazz mit vor. Beeindruckend zu hören ist das auf dem Titelstück des Albums »Pithecanthropus Erectus« von 1956 oder auf den kurz darauf entstandenen Aufnahmen wie »Tonight At Noon« oder »Passions Of A Man«. Mit letzterer endet »Oh Yeah«, eine aberwitzige Blues-platte mit avantgardistischen Einwürfen. Wenn sie dieses Album nicht gehört haben, hat es die Beastie Boys nie gegeben.

Die Kollektivimprovisationen der Mingus-Bands, unter ihren Mitgliedern Multi-Instrumentalisten wie Eric Dolphy und Rahsaan Roland Kirk, die Pianisten Horace Parlan und Mal Waldron und der Schlagzeuger Danny Richmond, sind legendär. Und auch dann, wenn Mingus als Solo-Pianist in Erscheinung tritt, ist er zwar ein Solitär, aber nie nur für sich. Sein erstes Instrument ist die Posaune gewesen, gefolgt vom Cello; in »Beneath The Underdog« sagt der junge Mingus über seinen Basslehrer Red Callender: »Ich war so überrascht, jemanden mit so einem Baß spielen zu hören - er spielte mit dem Bogen wie Menuhin und Heifetz - ganz hoch in den obersten Lagen, wie im Violinkonzert von Bartok.« Große Namen, großes Selbstbewusstsein. Eine Heldengalerie preist Mingus an: »Es gibt Jesus, Buddha, Moses, Duke, Bird und Art.« Art Tatum, einer der maßgeblichen frühen Jazzpianisten, ebenso vertraut mit klassischer und impressionistischer Musik, bei dem Mingus vorspielen darf, korrigierte seinen späteren Begleiter: »Wart mal eine Minute, Sohn. Du spielst ein Es in diesem As-Akkord, der chromatisch runtergeht. Also Buddha hätte das nicht gemacht.«

Duke Ellington - eine der Überfiguren des Jazz, ist Anreger und lebenslanger Bezugspunkt für Mingus. 1953 gehört er zur Band Ellingtons, Mundwerk und Temperament des Jüngers lassen das Engagement ein kurzes bleiben. Ein Jahr zuvor hat Mingus mit dem Drummer Max Roach das erste Independentlabel der USA gegründet. Bis 1957 werden unter dem Namen Debut Records über zwei Dutzend Platten mit modernem und experimentellem Jazz erscheinen. Die erste Veröffentlichung ist das in 500er-Auflage erschienene Album »Strings And Keys« mit dem Pianisten Spaulding Givens, ein schönes Beispiel für den kammermusikalischen Mingus. Ebenfalls legendär das Live-Album »Jazz At Massey Hall«, der Mitschnitt eines Konzerts von Charlie »Bird« Parker, Dizzy Gillespie, Bud Powell, Mingus und Roach, kurz und bündig nur »The Quintet«, der Super-Group des Bebop 1953 in Toronto. Bei dessen Herausgabe geht Mingus technisch innovativ vor, spielt die auf der Originalaufnahme schwer zu hörenden Bass-Linien im Overdub-Verfahren neu ein. Das »Massey Hall«-Album läuft nicht schlecht, trotzdem gerät Debut Records finanziell in schwere See und wird nach einem Streit mit Roach aufgegeben. Heute ist es ein Mythos.

Zu dieser Zeit gehören wohl auch die Urteile von Mingus über seine drei Charaktere: »Der Eine steht immer in der Mitte, unbekümmert und unbeteiligt. Er beobachtet und wartet darauf, den anderen beiden sagen zu können, was er sieht. Der Zweite ist wie ein ängstliches Tier, das angreift aus Angst, selbst angegriffen zu werden. Und dann ist da noch ein liebevolles, sanftes Wesen, das jeden in die entlegenste und heiligste Kammer seines Innern lässt. Es wird beleidigt, unterschreibt vertrauensvoll Verträge, ohne sie zu lesen, und lässt sich überreden, umsonst zu arbeiten.«

Noch in der Anfangszeit von Debut Records hat sich Mingus bei der Post verdingt. Es wird nicht besser, für lange Jahre: Depressionen, Psychoanalyse, Selbsteinweisung, Alkohol, Tabletten und Übergewicht. Mingus schlägt dem Posaunisten Jimmy Knepper im Streit einen Zahn aus und Knepper, der maßgeblich zum Mingus-Sound beigetragen hat, arbeitsunfähig.

Die Posaune auf Mingus’ 1963 erschienenem Geniestreich »The Black Saint And The Sinner Lady« spielt Quentin Jackson. Wer mokante Bemerkungen darüber verlieren wollte, dass es ausgerechnet der Psychotherapeut von Mingus, Edmund Pollock, ist, der für die Linernotes des Albums verantwortlich zeichnet, lief Gefahr, vor die Tür geladen zu werden. Im Ernst, »Black Saint« ist eine montierte Suite in der Manier von Ellington, ein außerordentlich durchdachter Hexenkessel aus Jazz und E-Musik, also das, was die stilistische Bezeichnung »Third Stream« gemeint hat. Dann ist da der Gitarrist Jay Berliner, in den frühen 60er Begleiter von Harry Belafonte und von Miriam Makeba; er sorgt für Latin-Anklänge.

1963 ist auch das Jahr, in dem Mingus seine Autobiografie schreibt. »Beneath The Underdog« ist nicht unbedingt ein Musikbuch. Es ist eines über die Klassengesellschaft und den Rassismus. Es ist radikal ehrlich. Mingus legt ein rauschhaftes Programm vor, das so unmöglich wie klarsichtig ist: »Ich frage mich, ob ich nicht die Prostituierten der ganzen Welt hypnotisieren könnte, dass sie nackt auf die Straße rennen und jeden Mann in Sicht vergewaltigen! […] Es wird Zeit, dass alle erfahren, was unsere Führer, die uns in den Tod treiben, weil sie so vor ihrem Leben flüchten müssen, eigentlich sind.«

Charles Mingus war vier Mal verheiratet: Canilla Jeanne Gross, Celia Nielson, Judy Starkey und Sue Graham. Letztere, in den 60ern Mitherausgeberin mehrerer Underground-Zeitungen wie der »New York Free Press«, kümmert sich bis heute darum, dass das Werk ihres Mannes kein museales bleibt. »Tonight At Noon« hat sie ihre Erinnerungen betitelt.

Charles Mingus starb am 5. Januar 1979 in Mexiko. Chazz sagt: »Wir werden wohl bald sowieso alle Nummern sein.« Soweit kommt es wohl auch noch.

Lektüretipps: Charles Mingus: Beneath The Underdog. Autobiographie. A. d. Engl. v. Günter Pfeiffer. Mit einem Nachwort von Harald Justin. Edition Nautilus 2003; Susan Graham Mingus: Tonight At Noon. Eine Liebesgeschichte. A. d. Engl. v. Conny Lösch. ebd. 2003.

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