Nicht Russland canceln, sondern die Ukraine entdecken

Das Go-East-Filmfestival in Wiesbaden ging am Montag zu Ende. Die Ukraine bekam viel Raum, und Filme, die staatliche Förderung aus Russland erhalten haben, wurden ausgeschlossen

  • Norma Schneider
  • Lesedauer: 6 Min.
Im Donbass geht der Konflikt quer durch die Familie: »Klondike« von Maryna Er Gorbach
Im Donbass geht der Konflikt quer durch die Familie: »Klondike« von Maryna Er Gorbach

Seit 22 Jahren zeigt das Go-East-Filmfestival in Wiesbaden Filme aus Mittel- und Osteuropa, darunter viele Filme aus Russland und der Ukraine. Aber soll man Filme aus Russland zeigen, während der russische Angriffskrieg weiter andauert und täglich Menschen in der Ukraine getötet werden? Die Frage nach dem Umgang mit der aktuellen Lage schwang dieses Jahr bei Go East immer im Hintergrund mit. »Der Krieg hängt wie ein böser Schatten über dem diesjährigen Festival«, sagt Festivalleiterin Heleen Gerritsen.

Einen Tag nach Beginn des Krieges hatte die Ukrainische Filmakademie dazu aufgerufen, russische Filme zu boykottieren. Gerritsen hat diesen Aufruf ernst genommen, aber sich dagegen entschieden, pauschal alle russischen Filme auszuschließen. Gerade in diesem Jahr habe es viele wichtige Filme aus Russland gegeben, die sich gegen das Regime und gegen Imperialismus richten. Ausgeschlossen wurden deshalb nur diejenigen Filme, die staatliche Förderung aus Russland erhalten haben, die unabhängigen Filme blieben im Programm. Dieser »halbe Boykott«, wie Gerritsen sagt, ging einigen ukrainischen Filmemacher*innen nicht weit genug und wurde kontrovers diskutiert.

Nach zwei Jahren pandemiebedingter Einschränkungen bot das Festival wieder vor Ort Raum für solche Diskussionen. Internationale Gäste konnten endlich wieder zum Festival anreisen, und es gab viel Raum für Begegnungen und Gespräche - bei Filmgesprächen und Diskussionsrunden genauso wie bei Cocktails am »Ostkiosk« vor dem Festivalzentrum. Am Samstagabend gab es besonders viel Aufmerksamkeit für die Veranstaltung »Russisches Kino boykottieren: eine ukrainische Perspektive« mit sieben Filmemacher*innen und Expert*innen aus der Ukraine. Es wurden bewusst keine russischen Teilnehmer*innen eingeladen, um den ukrainischen Stimmen Raum zu geben, ihre Position darzulegen.

Per Zoom wurde Volodymyr Sheiko, Generaldirektor des Ukrainischen Filminstituts, zugeschaltet. »Ich mag das Wort Boykott nicht«, sagte er. Aber es sei unmöglich, russische Kultur zu promoten, während der Krieg andauert. Deshalb sollte es bis zum Ende des Krieges keine Kooperation mit russischen Kulturleuten geben. Russische Kultur sei ohnehin international überrepräsentiert, jetzt sei es an der Zeit, dass andere Stimmen hörbar werden. »Es geht nicht darum, Russland zu canceln, sondern darum, die Ukraine zu entdecken.«

Anderen geht das nicht weit genug. Für die Solidarität mit oppositionellen russischen Kulturschaffenden hat die Soziologin Hanna Hrytsenko kein Verständnis, für sie klingt das wie »All Lives Matter«. Stattdessen sei eine Dekolonisierung Russlands nötig. Die Filmproduzentin Natalia Libet spricht von einem Scheitern der russischen Kultur - sie habe es nicht geschafft, die Humanität im eigenen Land aufrechtzuerhalten.

Der Film »This Rain Will Never Stop« von der ukrainischen Regisseurin Alina Gorlova hat im vergangenen Jahr den Wettbewerb von Go East gewonnen. In diesem Jahr hat Gorlova ihren Film vom Festival zurückgezogen, weil weiterhin russische Filme gezeigt werden. Das sei nicht angemessen, sagt sie in einer Videobotschaft, die in einer zerstörten Fabrik in der Nähe von Kyjiw aufgenommen wurde. Sie richtet die Kamera auf die zertrümmerte Einrichtung in den Büroräumen der Fabrik, auf die mit dem Z-Symbol und der russischen Flagge beschmierten Wände: »Hier, die russische Kultur«, sagt sie.

Gorlovas Kollegin Maryna Er Gorbach hat ihren Film »Klondike« nicht zurückgezogen, und er gehört zu den eindrücklichsten Filmen des Festivals. »Klondike« spielt in einem kleinen Dorf im Donbas, das 2014 aus seiner Ruhe gerissen und zur Kriegsfront wird. Die hochschwangere Irka und ihr Mann Tolik leben in einem Haus, dem die Wand fehlt. Weggeschossen. Ein Versehen, das bringen sie wieder in Ordnung, sagt Toliks Freund, der sich den Separatisten angeschlossen hat. Der Konflikt geht mitten durch die Familie: Während die Separatisten Tolik für sich gewinnen wollen, steht Irkas Bruder auf der Seite der Ukraine. Auch Irka selbst will nichts mit den Separatisten zu tun haben und dreht demonstrativ den Ton auf, wenn beim Fußballspiel im Fernsehen die ukrainische Nationalhymne gespielt wird. »Klondike« scheint vorwurfsvoll zu fragen, welche Zukunft Irkas und Toliks Kind inmitten von so viel Hass, Leid und Zerstörung haben kann. Maryna Er Gorbach hat die Schrecken des Krieges in existenziellen Bildern eingefangen.

Das ist auch den anderen ukrainischen Beiträgen beim Go-East-Festival gelungen, etwa dem Dokumentarfilm »Taubes Gestein« von Taras Tomenko. Er zeigt eine Kindheit in der Ostukraine, wenige Kilometer von der Front entfernt. Krieg ist dort zum Alltag, fast zur Normalität geworden. Die 14-jährige Nastya zeigt ihr zerstörtes Haus, erzählt von dem Tag, als ihr Vater getötet wurde. Mit ihrem Bruder sammelt sie Metall in den zerbombten Gebäuden, um es für ein bisschen Geld zu verkaufen. Tomenko zeigt sowohl Verzweiflung und Zerstörung als auch die Stärke und Gefasstheit der Kinder, die trotz allem ihr Leben meistern.

Zu den denkwürdigsten Filmen des Festivals, die die aktuelle Situation greifbar machen, gehört auch eine unabhängige russische Produktion, die bei einem vollständigen Boykott wohl nicht gezeigt worden wäre: Der Dokumentarfilm »Wo geht’s hin?« von Ruslan Fedotov, einem belarussischen Filmemacher. Der Film ist ein Porträt der russischen Gesellschaft, das sich aus Momentaufnahmen in der Moskauer Metro zusammensetzt. Fedotov ist dabei weniger an den prunkvollen sowjetischen Stationen oder am Verkehrsmittel Metro selbst interessiert. Es geht ihm um die Menschen, die unterwegs sind, ihre Gespräche und Interaktionen. So ist ein dunkler Film entstanden, der viel Abgründiges wie Armut, Gewalt und Alkoholismus zeigt.

Auch der russische Staat, Patriotismus und Militär sind erschreckend präsent, wenn man bedenkt, dass hier nur U-Bahn-Fahrten gefilmt wurden. Große Gruppen von Soldaten feiern sich selbst, patriotische Demonstranten rufen etwas von »Sieg«, und bei Protesten gegen die Regierung sieht man vor allem eines: Unmengen von Polizisten in voller Montur, die einzelne Fahrgäste gegen die Wand drücken und durchsuchen. Putins Neujahrsansprache und die Militärparade vom 9. Mai werden auf Bildschirmen in den Stationen übertragen. Besonders im Gedächtnis bleibt eine Szene, die Fedotov in einer überirdischen Metro-Station eingefangen hat. Eine Gruppe Polizisten schaut durch die Fenster auf ein Feuerwerk in Weiß, Blau und Rot. Es ist, wie viele von Fedotovs Aufnahmen, eine poetische, filmisch schön anzusehende Szene, in der dennoch das Gewaltsame der gegenwärtigen russischen Gesellschaft überdeutlich sichtbar wird.

Aber die gruseligsten Dinge, die Fedotov gefilmt hat - zum Beispiel Waggons voller Kinder in militärischen Uniformen -, hat er gar nicht verwendet, erzählt Fedetov im Gespräch. Er wollte »Wo geht’s hin« nicht ganz so düster machen, hat eine schöne, hoffnungsvolle Szene ans Ende gestellt.

Trotzdem gibt der Film, der vor Beginn des russischen Angriffskrieges fertiggestellt wurde, sehr wohl ein Gefühl dafür, wo es hingeht mit der russischen Gesellschaft, in welchem Kontext sich die aktuellen Ereignisse bewegen und wie es so weit kommen konnte.

Dem Go-East-Festival ist in schwierigen Zeiten ein wichtiger Balanceakt gelungen: Ukrainischen Stimmen wurde viel Raum gegeben, gleichzeitig wurden unabhängige russische Produktionen nicht »gecancelt«. Denn - wie Festivalleiterin Heleen Gerritsen es bei der Diskussionsrunde zum Boykott russischer Filme ausdrückte: »Ein Filmfestival ist nicht das Gleiche wie die Olympischen Spiele.« Filmemacher*innen sind in erster Linie keine Vertreter*innen ihres Landes, sondern Künstler*innen.

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