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Die Erzgebirgs-Utopie von 1945

In Schwarzenberg gab es nach dem 8. Mai 1945 für 42 Tage die »Freie Republik«. Die Idee lockt auch heute noch allerlei Besucher an

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 7 Min.

Es gibt nicht viele Städte, deren Name es zum Romantitel gebracht hat. Schwarzenberg hat das Glück. In der Touristeninformation am Markt steht neben Reiseführern und Faltblättern auch der Roman, mit dem der Schriftsteller Stefan Heym der Stadt im Erzgebirge zu literarischem Ruhm verhalf: »Schwarzenberg«, erschienen 1984, ein utopisches Gedankenspiel, das tatsächliche historische Ereignisse zum Ausgangspunkt nimmt.

Wer mehr über diese erfahren will, kann mit einem Flyer in der Hand den sechs Stationen eines Lehrpfades folgen, der am Schloss vorbeiführt, durch einen Park, später zum Rathaus. Der Rundgang trägt den Titel »Unbesetzt« und erinnert an ein historisches Kuriosum: die Zeit ohne Besatzer nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Nach dem 8. Mai 1945 zogen in die 2000 Quadratkilometer große Amtshauptmannschaft Schwarzenberg, in der 300 000 Menschen lebten, zunächst weder die Rote noch die US-Armee ein. Um Anarchie und Chaos zu verhindern, bildeten vier Kommunisten und zwei SPD-Mitglieder einen »Aktionsausschuss«, der den Alltag organisierte. Lebensmittel wurden beschafft, eine Zeitung aufgelegt, Notgeld und Briefmarken gedruckt. 42 Tage blieb Schwarzenberg autonom, bevor am 24. Juni sowjetische Truppen einzogen.

Die »unbesetzte Zeit« ist zwar nicht einzigartig – es gab andere Gebiete in Deutschland, die dieses Schicksal teilten –, aber sie ist doch eine Besonderheit. Noch mehr gilt das für den Roman, den Stefan Heym daraus entwickelte. Darin entwirft er das fiktive Szenario eines »Was wäre gewesen, wenn« und stellt dar, wie es »auf befreitem Boden, aber ohne Druck vonseiten fremder Mächte« vielleicht hätte gelingen können, »Demokratie und Sozialismus zu verknüpfen«. Den DDR-Oberen passte das nicht. Das Buch arbeite »den Feinden des Sozialismus … in die Hände«, urteilte die Staatssicherheit. Der Roman erschien zunächst nur im Westen.

Heute erinnert eine Metallplastik neben dem Schwarzenberger Rathaus an den Schriftsteller, und sein Roman liegt auch in der Erzgebirgsstadt im Regal und sei »ein Alleinstellungsmerkmal«, sagt Lydia Schönberg. Sie gehört zur Künstlergruppe »Zone«, die den Mythos nach Ende der DDR aufgriff und weitersponn. Sie rief eine virtuelle »Freie Republik Schwarzenberg« aus und druckte zum Beispiel Pässe, auf denen der Kreis goldener Sterne der Europäischen Union um eine erzgebirgische Fichte ergänzt ist. Die Kneipe »Café Piano« in der Altstadt, die Schönberg und ihr 2021 verstorbener Vater Jörg Beier gründeten und die auch die sehenswerte »Galerie Silberstein« beherbergt, wurde zur »Ständigen Vertretung« der Freien Republik erklärt. Alle fünf Jahre gibt es ein großes Fest, bei dem die Stadt symbolisch in vier Besatzungszonen und eine unbesetzte Zone aufgeteilt und dieses besondere Kapitel Heimatgeschichte gefeiert wird.

Was die Künstler an der Geschichte interessiere, sei »das utopische Element«, sagt Schönberg. Jörg Beier, der Bildhauer war und die treibende Kraft hinter der »Freien Republik«, faszinierte vor allem der Umstand, dass damals in einer sehr schwierigen Zeit »Menschen ihr Schicksal in die Hände genommen und eigenverantwortlich gehandelt haben«. Der Bildhauer machte kein Hehl daraus, dass auch die Gegenwart ein wenig politische Träumerei gut vertragen könnte.

Zugleich sehen die Künstler, zu denen auch der vor wenigen Wochen verstorbene Karikaturist Ralf Alex Fichtner gehörte (bekannt unter seinem Kürzel »RAF«), die Idee der »Freien Republik« als Teil der Stadtidentität von Schwarzenberg. Deren Selbstbild ist auf den ersten Blick, wie das der gesamten Region, von Bergbau und erzgebirgischer Volkskunst geprägt. Wer die steilen Stufen vom Parkplatz hinauf zu dem auf einem Felssporn über dem Tal des Schwarzwassers thronenden Schloss steigt – oder sich vom daneben befindlichen Fahrstuhl in die Höhe befördern lässt –, der findet sich in einer Ladenstraße, in der die obligatorischen Bergmänner, Lichterengel und Räuchermänner in den Schaufenstern stehen. Im Schloss selbst ist neben dem Heimatmuseum auch eine Klöppelschule ansässig; zarte Blütenmotive und Sterne hängen in den Fenstern.

Aber Schwarzenberg sei eben auch »mehr als Klöppeln und Schnitzen«, sagt Lydia Schönberg in ihrer Kneipe, die in der Schloßstraße leicht exotisch wirkt. Schon an der efeubewachsenen Fassade weisen skurrile und verspielte Schilder und Bilder auf die Freie Republik Schwarzenberg hin; im Treppenhaus, das an einen Bergwerksstollen erinnert, folgen weitere Dokumente, Fotografien und Kunstwerke. Im urigen Schankraum kann die Betreiberin des »Café Piano« regelmäßig Gäste und Touristen begrüßen, die – oft angeregt von Heyms Buch – die »Freie Republik« kennenlernen wollen. Deren Pässe, die hier für 8,50 Euro erworben werden können, sind als Souvenir sehr begehrt. Viele literarisch Interessierte, sagt Schönberg, »verbinden unsere Stadt inzwischen mit dieser Geschichte«.

Umgekehrt gilt das nur bedingt. Schwarzenberg wirbt nirgends mit der »Freien Republik« für sich. Auf der städtischen Internetseite wird die »unbesetzte Zeit« in der historischen Chronologie kurz erwähnt. Weitergehende Erläuterungen, Verweise auf Heyms Roman oder heutige Aktivitäten rund um das Thema sucht man vergebens. Im Heimatmuseum gibt es nur eine kleine Abteilung zu diesem Teil der Stadtgeschichte. Unter den 16 thematischen Stadtführungen, die Touristen buchen können, findet sich nur eine einzige zur »Fiktion einer freien Republik« – neben Rundgängen etwa zur Eisenbahngeschichte oder den Waschmaschinen, die von 1902 bis zur Insolvenz des Werkes im Jahr 2000 in der Stadt produziert wurden. Doch moderne digitale Angebote, Werbeblätter, Broschüren, gar eine Kampagne über Schwarzenberg als »Stadt der freien Republik« gibt es nicht. Die Stadt fasse das Thema an wie eine »heiße Kartoffel«, sagt Schönberg. Auch Ruben Gehart (CDU), der seit 2020 Oberbürgermeister der Stadt ist, bezeichnet die unbesetzte Zeit zwar als »eine Geschichte, auf die man fast stolz zurückblicken kann«. Was die Vermarktung anbelangt, räumt er aber ein: »Da wäre mehr möglich.«

Maßgeblicher Grund für die Zurückhaltung dürfte sein, dass die »unbesetzte Zeit« noch immer für Streit sorgt. Die Schwarzenberger Historikerin Leonore Lobeck etwa interpretiert sie als nahtlosen Übergang von einer Diktatur in die nächste, beispielsweise in einem großen, auf der Homepage der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlichten Aufsatz. In einem bereits 2004 von Sachsens Landesbeauftragtem für die Stasi-Unterlagen publizierten, mehrfach überarbeiteten Buch über die »Schwarzenberg-Utopie« ist die Rede von »kommunistischen Akteuren«, die »nicht Freiheit und Selbstbestimmung« gebracht hätten, sondern »in ihren Köpfen fremdbestimmte neue Herrscher« gewesen seien. Als Indiz gelten Vorfälle wie die Festnahme des NSDAP-Bürgermeisters Ernst Rietzsch, der später an die sowjetische Militärverwaltung übergeben und im Mai 1946 hingerichtet wurde. Jörg Beier argumentierte 2010 in einer materialreichen Ausstellung, dass Rietzsch wegen seiner Rolle bei der Ermordung von Juden in Belarus verurteilt wurde. Rathauschef Gehart spricht dennoch von »Gräueltaten« in der unbesetzten Zeit, die nicht vergessen werden dürften.

Das Ringen darum, wie dieser Teil der Schwarzenberger Geschichte zu deuten ist, hält daher an. Es bestimmte schon mehrere wissenschaftliche Konferenzen und auch die regelmäßigen Festwochen mit Vorträgen, Lesungen und Führungen, die jeweils zu runden Jubiläen stattfinden. Nachdem die Festwoche 2020 wegen Corona abgesagt werden musste, soll die nächste 2025 stattfinden. Zuvor wolle man »noch einmal in die Archive steigen«, sagt Gehart. Lobeck sieht die Stadt weiterhin im »Spagat« zwischen korrekter Darstellung der Geschichte und »Vermarktung einer Legende«. Lydia Schönberg wiederum glaubt, dass man bei Letzterem weit unter den Möglichkeiten bleibt. Beispielsweise habe ihr Vater viele Jahre von einem eigenen Museum zur unbesetzten Zeit und Freien Republik geträumt, das es aber bis heute nicht gibt. »Jede andere Stadt«, ist Schönberg überzeugt, »würde das tun.« Bis es so weit ist, dient ihre Kneipe als eine Art Mekka für die Fans der »Freien Republik«, in dem diese nach einem Rundgang durch die Stadt über einem Bier in deren spannende Geschichte abtauchen können.

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