Das Reale einer Konstruktion

Sally Haslanger will der Wirklichkeit mit feministischer Sozialkritik beikommen. Doch die bekannte Philosophin verbleibt innerhalb des neoliberalen Dogmas, auch weil sie keinen Begriff vom Kapitalismus hat

  • Lena Böllinger
  • Lesedauer: 7 Min.

»Frauen (wissen), dass die männliche Welt da draußen existiert, weil sie ihnen ins Gesicht schlägt. Ganz gleich wie sie darüber nachdenken oder versuchen, sie wegzudenken oder kraft ihrer Gedanken in eine andere Form zu bringen, bleibt sie unabhängig von ihnen real und zwingt sie immer wieder in bestimmte Formen. Ganz gleich, was sie denken oder tun, sie kommen da nicht raus. Sie hat die Unbestimmtheit eines Brückenpfeilers, auf den man mit 60 Meilen pro Stunde trifft.« Dieses Zitat stammt von der Rechtsprofessorin und Feministin Catharine MacKinnon, sie schrieb es 1989. Nachlesen kann man es in einem 2021 erschienen Buch der Philosophin Sally Haslanger mit dem Titel »Der Wirklichkeit widerstehen. Soziale Konstruktion und Sozialkritik«. Sally Haslanger ist Professorin am Department of Linguistics and Philosophy des Massachusetts Institute of Technology und arbeitet zu »feministischer Metaphysik«. In den USA ist sie eine Art Philosophie-Promi, in Deutschland ist sie bislang weniger bekannt. Das Buch präsentiert die wichtigsten Aufsätze von Haslanger, die zwischen 1995 und 2017 verfasst wurden, erstmals in deutscher Übersetzung.

Worum geht es der Philosophin Sally Haslanger? Dass sie sich auf die feministische Juristin MacKinnon bezieht, ist kein Zufall. Wie MacKinnon geht es ihr darum, die Realität gegen »jegliche Form von Idealismus oder Relativismus« zu verteidigen. Selbst wenn man der inzwischen zur innerfeministischen Binsenweisheit gewordenen Aussage, dass die Welt sozial konstruiert sei, zustimmt, muss man laut Haslanger doch auch zugestehen: Die Welt existiert nichtsdestotrotz (zumindest teilweise) unabhängig von uns. Weder Fäuste noch Brückenpfeiler lassen sich sozial wegkonstruieren, sie sind nicht bloße »Fiktion« oder »soziale Projektion« und wir sind keine »Halbgött*innen«, die die sozialen Welten nach Belieben erschaffen oder kontrollieren können. Bezweifeln dürfe man hingegen die Existenz einer objektiven Realität »an sich«, die sich uns pur und neutral offenbart, ganz ohne perspektivische und soziale Verunreinigung.

Realität von Gewicht

Im Angesicht der gegenwärtigen feministischen Debatten stimmt dieser Ausgangspunkt Haslangers zunächst hoffnungsfroh. Immerhin scheint man es hier mit einer Denkerin zu tun zu haben, die an einer politischen und theoretischen Bestimmung der (Geschlechter-)Verhältnisse festhält. Haslanger überlässt diese Bestimmung nicht der individuellen Selbstauskunft (à la Geschlecht ist, was du subjektiv fühlst oder denkst). Genauso wenig kapituliert sie vor der vermeintlichen empirischen Vielfalt (à la es gibt so viele Geschlechter, wie es Individuen auf der Welt gibt, wie können wir uns da auf einen Begriff einigen?). Sie bleibt dabei: Es gibt gender. Es gibt race. Sie sind real. Es sind theoretisch und politisch wichtige Begriffe und sie lassen sich innerhalb einer sozialen Struktur bestimmen. Eine Besonderheit von Haslangers Ansatz ist dabei, dass sie nicht nur die Verwendungsweise und die Bedeutung von Begriffen untersucht, sondern auch fragt, inwiefern sie einer politischen Bewegung nützlich sein können, was also der politische Zielbegriff sein soll.

Doch trotz ihrem Beharren auf realen, sozialen Strukturen verfehlt Haslanger am Ende deren Analyse und Kritik. Das liegt in erster Linie daran, dass sie trotz vehementem Beharren auf einer »unabhängigen Realität« mehr Begriffsanalyse als Gesellschaftsanalyse, mehr kategoriale als politische Zielformulierung betreibt. Haslanger behauptet zwar, dass sie sich in der Tradition eines »materialistischen Feminismus« verorte, bezieht sich aber nicht auf die entsprechenden Theoretikerinnen – was man wohl entweder als ignorant oder unverschämt einordnen muss. Auch vom Marxismus will sie nichts wissen, und vom Kapitalismus hat Haslanger erst gar keinen Begriff – sie erwähnt ihn im gesamten Buch kaum und wenn doch, bezeichnet sie ihn vage als »Lohnarbeitssystem« oder noch schwammiger als »soziales Phänomen« oder »Form der Unterdrückung«. Wahllos werden dann in bekannter Manier andere Unterdrückungen daneben aufgereiht (weiße Vorherrschaft, Patriarchat, Heteronormativität, Behindertenfeindlichkeit und Speziesmus). All diese Unterdrückungen sollen dann im Rahmen einer »Theorie komplexer Systeme« irgendwie intersektional miteinander verwoben sein.

Hartnäckige Hierarchien

So kommt es, dass Haslanger zwar viel von Sozialstruktur, Ideologie und Ideologiekritik redet, am Ende aber doch an den gesellschaftlichen Verhältnissen vorbeitheoretisiert. Soziale Strukturen sind für sie Gebilde, die aus »Schemata« (intersubjektiven, kulturellen Mustern, Skripten, Bedeutungsschablonen) einerseits und »Ressourcen« und »Materialien« andererseits bestehen. Soziale Strukturen stellen »soziale Positionen« bereit. Haslanger definiert gender und race als eben solche sozialen Positionen in einer hierarchischen sozialen Struktur.

Wie aber kommen diese Hierarchien zustande? Warum halten sie sich so hartnäckig? Das einzige, was Haslanger hier als Erklärung zu bieten hat, sind »Ideologien« und »Praktiken«, die sich wechselseitig beeinflussen und irgendwie zur Stabilität der sozialen Struktur führen sollen. Eine ganze »Kultur« halte die soziale Struktur aufrecht, weshalb Haslanger Ideologie als »Kulturtechnik« bezeichnet. Aus diesen theoretischen Konzepten leitet Haslanger anschließend eine bestimmte Art der politischen Strategie und eine spezifische Form der (Ideologie-)Kritik ab: Es gehe darum, »neue Erfahrungen« zu ermöglichen, die den »gesunden Menschenverstand« und »Alltagspraktiken« infrage stellen. Durch diese »Brüche«, so glaubt Haslanger, gelänge es, »neue und potenziell emanzipatorische Begriffe« hervorzubringen, die »andere Mittel für Denken, Fühlen und Handeln erlauben«. »Subalterne Gegenöffentlichkeiten«, »Räume für das Erkunden neuer Weisen des Zusammenlebens«, »Experimente im Leben« wünscht sich Haslanger und hält diese Wünsche offensichtlich für sehr radikal. An anderer Stelle kulminiert ihre Analyse regelrecht in liberalem Pathos: »Ich fordere«, schreibt Haslanger, »dass wir uns selbst und die Menschen um uns herum als tiefgreifend von Ungerechtigkeit geprägt sehen«. Und »wir sollten es ablehnen, dem gender nach ein Mann oder eine Frau zu sein, wir sollten es ablehnen, rassifiziert zu werden«. Das sind zwar alles sehr edle Wünsche und Forderungen, sie gehen nur leider völlig konform mit dem neoliberalen Gleichstellungsdogma.

Am Neoliberalismus vorbei

Dass der Spätkapitalismus längst auf Gleichberechtigung und Selbstverwirklichung bei gleichzeitiger Ausblendung der materiellen Zwänge und Ungleichheiten setzt, scheint Haslanger vollständig zu entgehen. Ebenso, dass wir es gegenwärtig mit einer aggressiven Inwertsetzung »neuer Erfahrungen« und »alternativer Welten« zu tun haben, die die Subjekte gnadenlos zur Optimierung ihrer alltäglichen Erlebniswelt anhält. Auch mit ihrer Festlegung der feministischen und antirassistischen Ideologiekritik auf die Entlarvung biologistischer Naturalisierung argumentiert sie an den gegenwärtigen Verhältnissen vorbei. Allein am Beispiel der (biologischen) Mutterschaft lässt sich das momentan in Echtzeit beobachten: Die Reproduktionsindustrie hat längst entdeckt, dass es der Rendite eher schadet, wenn man am Ideal rein biologischer Fortpflanzung festhält. Der Kapitalismus arbeitet längst selbst auf eine »entnaturalisierte«, dafür aber industrialisierte Mutterschaft hin. Dass das der weiblichen Freiheit nicht zuträglich und Anlass zu feministischer Kritik geben sollte, ist eigentlich offensichtlich – mit den theoretischen Konzepten Haslangers wird das aber kaum möglich sein.

Fatalerweise setzt Haslanger somit trotz bester Absichten mit ihren theoretischen Konzepten und ihrer »Ideologiekritik« den gegenwärtigen Herrschaftsverhältnissen nichts entgegen, sondern arbeitet ihnen möglicherweise sogar noch zu. An dieser Stelle rächt sich ihre mangelhafte Auseinandersetzung mit der materialistisch-feministischen Theorie. Diese nimmt ihren politischen und theoretischen Ausgangspunkt nämlich gerade nicht bei »problematischen Begriffen« und sie versteht unter Materialität und Ressourcen auch nicht einfach nur irgendwelche Dinge, die man für bestimmte Praktiken braucht, wie den Kochtopf zum Kochen. Der materialistische Feminismus setzt bei den materiellen Verhältnissen an. Er interessiert sich für die ökonomischen Dynamiken, arbeitet heraus, inwiefern der Kapitalismus von Anfang an auf patriarchale und koloniale Verhältnisse sowie auf Naturzerstörung angewiesen war und inwiefern er das immer noch ist. Das ermöglicht es auch, zu analysieren, inwiefern sich die (sexistische und rassistische) Ideologie gemeinsam mit dem Kapitalismus modernisiert. Der Kapitalismus und die mit ihm einhergehenden rassistischen und sexistischen Verhältnisse sind so real und unabhängig von unserer »Perspektive« wie die eingangs zitierten Fäuste und Brückenpfeiler. Sie sind aber zugleich weit mehr als eine »kulturelle Praxis«, der man mit »neuen Erfahrungen«, »besseren Begriffen« oder anderen gut gemeinten liberalen Gesten beikommt.

Sally Haslanger: Der Wirklichkeit widerstehen.
Soziale Konstruktion und Sozialkritik.
Suhrkamp, 283 S., br., 22 €.

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