Zweifelhafte Berühmtheit

Eine ukrainische Sowjet-Oma wurde zum Kult in der russischen Kriegspropaganda

Die Babuschka mit Fahne dient in vielen Varianten als Propaganda-Symbol.
Die Babuschka mit Fahne dient in vielen Varianten als Propaganda-Symbol.

»Altes Tante Julischka / träumt noch von Kolchose / Arbeitsplätze gab es da / Heute gibt’s Zirrhose«, beginnt der Song »Babuschka« der Band Erste Allgemeine Verunsicherung. Er gehört zu ihrem 2015 veröffentlichten Album »Werwolf-Attacke«. Über eine andere Seniorin, die dem vor mehr als drei Jahrzehnten verflossenen Mutterland der Werktätigen weiter die Stange hält, werden derzeit auf Russisch Lieder gedichtet.

Ihren Heldenstatus verdankt diese einem Ende April viral gegangenen Video. Mit der sowjetischen Fahne in der Hand und einer kleinen Lobrede auf Russland und Putin begrüßt darin die Oma, die Anna Iwanowna heißen soll, in ihren Ort kommende ukrainische Soldaten. Die Babuschka hatte nicht nur die Epochen durcheinandergebracht, sondern auch die Uniformen. Die Szene spielt mutmaßlich in der umkämpften ostukrainischen Region Charkiw. Nachdem ein Soldat ihr die Fahne abnimmt und darauf herumtrampelt, macht es bei Babuschka klick. Nun weist die ärmlich gekleidete und vom Leben gezeichnete Frau die ihr gebrachten Lebensmittel stolz zurück. So weit, so traurig.

Noch mehr Tränen treiben die peinlichen Denkmale in die Augen, mit denen die russische Z‑Propaganda nun »Mütterchen Anya« instrumentalisiert. Sowjetnostalgie zieht. Und nicht nur bei Russen zeigt das Klammern an nationale Mythen, wie bitter es um die Gegenwart steht. Im Ausland hat die Sowjet-Oma Fans unter jenen, die den Schuss von 1991 nicht gehört haben. Eine Wende im Propagandakrieg wird den Truppenteilen des Kreml mit der Frau von gestern wohl kaum gelingen. Und natürlich hat die Ukraine eine Neuerzählung zur Fahnen-Oma in Umlauf gebracht, in der Anna Iwanowna mit Hammer und Sichel die Russen nur vom Plündern abhalten wollte. Und jetzt sei Babuschka richtig froh über die Evakuierung nach Charkiw durch die ukrainische Armee, nachdem die Besatzer das Haus der unfreiwilligen Berühmtheit bombardiert hätten. Jede Propaganda schafft sich Fakten. Der EAV-Song ist eher desillusionierend: »Babuschka Babuschka / die Romanows sind wieder da!«

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