Der Korpsgeist spukt noch immer

Björn SC Deigner wirft mit »Die Polizey« seinen Blick auf eine gefährliche Institution. Das Staatstheater Braunschweig hat sich seines Chorstücks angenommen

Rasante Dialoge, nur: Die Kostüme scheinen einer Historienklamotte entnommen worden zu sein.
Rasante Dialoge, nur: Die Kostüme scheinen einer Historienklamotte entnommen worden zu sein.

Die Geschichte der Polizei liegt im Dunkeln. Wortwörlich. Und nicht erst seit Brechts zum Schlager geronnener »Moritat von Mackie Messer« wissen wir genau: »Doch man sieht nur die im Lichte / Die im Dunkeln sieht man nicht«. Wir erinnern uns: Londons verbrecherische Schreckensgestalt Macheath steht mit dem Polizeichef in freundschaftlichem Verhältnis, sie kennen sich noch aus ihrer Zeit beim Militär. Schon um 1800 hat Friedrich Schiller in einem Fragment gebliebenen Drama, betitelt »Die Polizey«, zu skizzieren versucht, wie sich in Paris aus den Reihen der Großstadtkriminellen und aus dem Geist des Verrats ein Berufsstand, mehr noch: ein Machtsystem, herausgebildet hat. Aus jedem »Tatort« kann man wissen, dass die beiden dunklen Gestalten, der Schurke und sein Verfolger, Zwillinge sind. 

Der Dramatiker Björn SC Deigner hat den über die universitären Seminarräume hinaus in Vergessenheit geratenen literarischen Schatz gehoben und zum Ausgangspunkt für ein eigenes Stück genommen, das, vor zweieinhalb Jahren in Bamberg unter demselben Titel wie die Vorlage uraufgeführt, nun in einer eigenen Fassung am Staatstheater Braunschweig zur Premiere kam und von Licht und Schatten zu berichten weiß. Auch Deigner zeigt durch die Jahrhunderte die Gesetzlosigkeit der Gesetzeshüter und problematisiert das Verratsmotiv in all seiner Ambivalenz: zwischen korrupter Existenz und Treue bis in den Tod.

»Wer heute noch von Einzelfällen redet, hat nichts verstanden«, ist dem Stücktext als Motto vorangestellt. Es handelt sich um eine Aussage von Seda Başay-Yıldız, Rechtsanwältin im NSU-Prozess. Nicht Einzelfälle interessieren den Autor, sondern das Symptomatische. Er geht dem Wesen der Polizei auf die Spur. Seine klug komponierten Szenen fügen sich aneinander, halten die Widersprüche und Uneindeutigkeiten aus und bilden das große Panorama einer bestimmenden Institution ab.

Bei Schiller und seinem Helden Vidocq, der es von der Gangstergröße zum Polizeichef schafft, nimmt »Die Polizey« ihren Ausgang, zeigt alsbald die wechselseitigen Verbindungen zum Militär. Bis heute ist es die blaue Staatsmacht, in der der Korpsgeist vergangener Zeiten überwintert. Schließlich enden wir in der neuen Geschichte, bei der Rolle von Polizisten bei der Umsetzung des Völkermords an den europäischen Juden etwa, und in der neuesten Geschichte: in Rostock-Lichtenhagen und bei deutschen Polizisten beim Ku-Klux-Klan.

Das alles ist keine denunziatorische Anklage, sondern ein durchaus nuancenreiches Bild. Die Polizisten sind nicht die Verkörperung des Bösen, aber warum sie doch zum Handlanger des Bösen werden können, darauf gibt dieses Stück zumindest den Versuch einer Antwort. Die massenhafte Erschießung »lebensunwerten Lebens« ist hier auch dem pflichtbewussten Staatsbeamten zu viel. Wo ist sein Ausweg aus dem Gehorsam? Bei den Pogromen der Neonazis ist von der harten Hand des Staates nichts zu bemerken, sieht man vom Durchgreifen gegen Antifaschisten ab. 

Der größte Vorzug von Deigners Arbeit liegt aber in seiner enormen sprachlichen Begabung. Der Rhythmus der Szenenfolgen verrät ein musikalisches Geschick, das jede Holzhammerdramaturgie unterläuft, wie sie uns im zeitgenössischen Theater nicht selten begegnet. Mit Lakonie und einfacher, aber kraftvoller Sprache dringt Deigner weit vor ins Zentrum seines Gegenstands: »und Pflicht ist Gesetz / und Gesetz ist ein Messer / das schneidet schärfer durch / Fleisch als jedes Metall«.

Für die Inszenierung am Staatstheater Braunschweig hat Björn SC Deigner seinem Stück eine weitere Szene hinzugefügt, in der er einen ungeliebten Abschnitt aus der Stadthistorie zum Thema macht. Das Braunschweiger Schloss, nicht nur architektonischer Mittelpunkt der Stadt, beherbergte einst eine von nur zwei SS-Junkerschulen im faschistischen Deutschland. Hier wurde die Elite für den totalitären Staat herangezüchtet, auch für den Polizeiapparat. In Braunschweig wird darum nicht viel Aufhebens gemacht, und worüber in der Stadt geschwiegen wird, da muss das Theater einhaken. Zumindest eines, das sich seiner Rolle als Ort einer lokalen Öffentlichkeit bewusst ist. Vielleicht hat hier die Kunst tatsächlich die Möglichkeit, eine überfällige Verständigung über ausgeblendete Aspekte der Geschichte in Gang zu bringen.

Christoph Diem, Oberspielleiter am Staatstheater Braunschweig, hat sich als Regisseur und Bühnenbildner der »Polizey« angenommen. In seiner 80-minütigen Inszenierung formiert er acht Schauspielerinnen und Schauspieler zu einem Chor, die dem Text weitgehend folgen. Das Bühnenbild – acht versetzte Banner hängen vom Portal bis zum Bühnenboden herab – gibt ihnen Raum, sich zu verstecken, aus dem Verborgenen wieder aufzutauchen, zu stillen, bald schon durchgreifenden Beobachtern zu werden. 

Die Kostüme aber scheinen eher einer Historienklamotte entnommen zu sein. Und auch der Zugriff auf den Text ist wenig überzeugend. Die Spieler folgen der falschen Fährte der Figurenpsychologie. Deigners Stück aber ist keine Auseinandersetzung mit dem Einzelindividuum in Uniform, seine Fragestellungen sind größer. Und so wird hier gespielt und geschrien, gefleht und sich verwandelt – und mit großem Bemühen schlicht zu viel getan; nebenbei gesagt: auch zu viel Klamauk aufgefahren, statt auf einen eindrucksvollen Text zu vertrauen. Die inszenatorischen Einzelaspekte – ein bisschen Jazz hier, ein paar Projektionen von Plattenbauansichten dort – bleiben im Unklaren. Hier wäre etwas Reduktion sicher angemessen gewesen. Wo der Regisseur die Worte dem Chor überlassen hat, wurde dann auch eine theatrale Kraft spürbar, die leider nicht über den ganzen Abend getragen hat.

Im Sommer wird der Deutschlandfunk eine Hörspielfassung von »Die Polizey« in der Regie von Luise Voigt ausstrahlen. Der Fokus auf Deigners messerscharfe Sprache und seine Musikalität, den das Medium verspricht, werden dem Stück sicher guttun. Dessen literarische Qualität und die Zustandsbeschreibung der Institution Polizei über die tagesaktuelle Nachrichtenlage hinaus geben schon jetzt eine Ahnung von überdauernder Relevanz. 

Nächste Vorstellungen: 18., 20. und 27. Mai, www.staatstheater-braunschweig.de

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