Es braucht mehr Schutz

Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung legt Handlungsempfehlungen zur Gewaltprävention vor

Gewalt gegen Menschen mit Behinderung ist vielfältig und findet oftmals hinter verschlossenen Türen statt – in Wohneinrichtungen und Werkstätten. Zwei besonders gravierende Fälle haben hier in der jüngsten Vergangenheit für Schlagzeilen gesorgt: Im Wittekindshof im nordrhein-westfälischen Bad Oeynhausen waren jahrelang Menschen mit Behinderung unter anderem illegal fixiert und eingesperrt worden. Und in Potsdam wurden vier Bewohner*innen des Oberlinhauses von einer Pflegerin getötet.

In Wohneinrichtungen und Werkstätten erlebten Menschen mit Behinderungen häufig Gewalt, «darunter körperliche oder sexualisierte Gewalt, psychischen Druck und teilweise auch unrechtmäßige freiheitsentziehende Maßnahmen», erklärt Britta Schlegel, Leiterin der Monitoringstelle UN-Behindertenrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrechte, die am Montag gemeinsam mit dem Behindertenbeauftragten der Bundesregierung konkrete Handlungsempfehlungen zum Gewaltschutz in Einrichtungen vorlegte. «Wir kennen zahlreiche Fälle, wissen aber auch, dass das Dunkelfeld sehr hoch ist. Deswegen müssen Politik und Akteur*innen der Behindertenhilfe hier dringend handeln», so Schlegel.

Zum Handeln aufgefordert werden mit den Empfehlungen sämtliche Ebenen der Behindertenhilfe, die verantwortlich sind für das Wohlergehen von rund 200 000 erwachsenen Menschen mit Behinderungen in Wohneinrichtungen und rund 330 000 behinderten Beschäftigten in Werkstätten – von den Regierungen in Bund- und Ländern über die Träger und Aufsichtsbehörden bis hin zu den Beschäftigten.

Zwar seien seit Juni 2021 Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen nach § 37a Abs. 1 SGB IX gesetzlich dazu verpflichtet, Gewaltschutzkonzepte zu entwickeln und umzusetzen, heißt es in dem Papier, doch gebe es dafür keine einheitlichen Qualitätsstandards und existierten diese Konzepte oft nur «auf dem Papier».

Die Einrichtungen müssten deshalb «den gesetzlichen Auftrag umgehend umsetzen» und «Gewaltschutzkonzepte partizipativ entwickeln, die unter anderem »den Schutz der Privat- und Intimsphäre, vor körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt sowie die Achtung der reproduktiven Selbstbestimmung von Frauen mit Behinderungen« berücksichtigten. Zudem müssten »niedrigschwellige und barrierefreie Zugänge zu internen und externen Beschwerdestellen« geschaffen und die Bewohner*innen barrierefrei darüber informiert werden.

Vom Gesetzgeber auf Bundesebene verlangt das Papier zudem unter anderem, dass er verpflichtende Mindestkriterien für Gewaltschutzkonzepte in § 37a Abs. 1 SGB IX regelt sowie eine unabhängige Stelle benennt oder einrichtet, die die Qualität der Konzepte prüft und per Zertifizierung bestätigt. Für die Träger der Leistungen für Menschen mit Behinderung empfehlen das Deutsche Institut für Menschenrechte und der Behindertenbeauftragte, zuständige Personen für den Gewaltschutz zu benennen und zu qualifizieren sowie eine Ansprechstelle für Einrichtungen und Betroffene zu schaffen.

Auch die Beteiligungsrechte der Bewohner*innen müssten gestärkt werden, so die Empfehlungen. Dafür sollte die Bundesregierung etwa bereits etablierte Strukturen wie das Bundesnetzwerk der Frauenbeauftragten in Einrichtungen oder Selbstvertretungsorganisationen stärken und dauerhaft angemessen finanzieren beziehungsweise fördern. Die Gesetzgeber in den Ländern werden aufgefordert, das Heimrecht zu reformieren und um Gewaltschutzvorkehrungen zu ergänzen.

»Gewalt zu erleben, ist eine schreckliche Erfahrung, die einen Schatten über das gesamte Leben werfen kann«, so Jürgen Dusel, Behindertenbeauftragter der Bundesregierung. Den Staat treffe die Verpflichtung, seine Bürger*innen, darunter auch die Menschen mit Behinderungen, wirksam vor Gewalt zu schützen. »Aber es gibt immer noch große Lücken und Probleme bei diesem Thema. Deshalb fordere ich den Bund auf, bestehende Gesetze nachzubessern. Aber auch die Länder, die Leistungsträger und die Leistungserbringer sind in der Pflicht, ihrer Verantwortung gerecht zu werden«, fordert Dusel.

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