nd-aktuell.de / 29.05.2022 / Kultur / Seite 1

Abbruch der Zelte

Vor 90 Jahren kam »Kuhle Wampe« in die Lichtspielhäuser. Am Neuen Theater Halle erinnert eine Inszenierung an das Werk – und in Berlin verblassen die Spuren einer einstigen proletarischen Lebensrealität

Erik Zielke
Vielleicht der erste Autorenfilm aus Deutschland: "Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?"
Vielleicht der erste Autorenfilm aus Deutschland: "Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?"

Der Regisseur Slatan Dudow[1], ein Mitstreiter Bertolt Brechts für eine kurze, sehr produktive Zeit, hat am Vorabend der faschistischen Machtübernahme in Deutschland einen dokumentarischen Stummfilm gedreht: »Zeitprobleme: Wie der Arbeiter wohnt«. Wen diese Frage interessiert, auf die späten 20er, frühen 30er Jahre bezogen, der sollte besser all den Weimarer-Republik-Kitsch beiseitelegen, mit dem man in Film, bildender Kunst, Theater und Literatur beständig behelligt wird. Und stattdessen? Man könnte den erwähnten Zwölf-Minüter ansehen, besser noch den Skandalfilm, der auf diesem beruht: »Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?«. Hier kommt zum Dokumentarischen der Vorarbeit – ein gewisser Herr Eisenstein ist nicht ohne Einfluss geblieben – noch eine künstlerische Dichte und Qualität hinzu, die einem reichlich Anlass geben, über Kunst und Politik, Milieu und Klasse, kleinbürgerliche Existenz und revolutionären Aufbruch, Lethargie und Agitation, Realismus und Montage nachzudenken.

Ich habe Lust, darüber ins Nachdenken zu kommen, und auch die Frage nach der Lebensrealität der Arbeiter jener Zeit weckt mein Interesse. Am Dienstag sehe ich erneut »Kuhle Wampe[2]«, jenes Werk aus dem Jahr 1932, verfasst von Bertolt Brecht und Ernst Ottwalt, in Szene gesetzt von Slatan Dudow und versehen mit der berühmt gewordenen Musik von Hanns Eisler. Vorwärts, nicht vergessen.

Der Kunstverstand der Polizei

Schwer hatte es dieser Film. Natürlich. Ein früher Tonfilm, ästhetisch auf der Höhe der Zeit, der nicht den Fehler der Arbeiterfilme jener Tage machte, melodramatisch Einzelschicksale zu zeigen. Wer sich den Film ansieht, dem werden die Bilder des ersten Teils nicht mehr aus dem Kopf gehen. Arbeitslosigkeit bestimmt die gesellschaftliche Situation. Vier Millionen Menschen betrifft das. Nüchtern fängt die Kamera eine Familie am Esstisch ein. Kleinbürgerliche Beschränktheit trifft auf kämpferischen Protest – trifft auf völlige Resignation. Was erschüttert mich beim Wiedersehen dieser Szene? Der arbeitslose junge Mann legt behutsam seine Armbanduhr ab, bevor er überlegt und leidenschaftslos zum Fenster geht. Ein Selbstmord, der – auch in seiner filmischen Darstellung – etwas Zwangsläufiges hat.

Schwer hatte es der Film vor allem wegen der Zensurbehörden, die an so vielem Anstoß nahmen. Auch die Selbstmordszene wird zum Politikum. Niederschriften von Brecht geben uns einen Eindruck davon. Ein Selbstmord dürfe natürlich dargestellt werden, so der Zensor. Aber der Figur fehle das Individuelle, er sei eine Type. Der eine Selbstmörder stehe damit stellvertretend für die vier Millionen Arbeitslosen. Brecht resümiert, der Zensor habe ein kleines Kolleg über den Realismus gelesen – vom Polizeistandpunkt aus.

Der Film bricht also mit allen bürgerlichen Traditionslinien. Hier geht es nicht um Helden und Antihelden, das Werk zeigt gesellschaftliche Verhältnisse statt die Situationen Einzelner. Brecht hatte das Theater zu diesem Zeitpunkt bereits revolutioniert, nun fügte er seinem Œuvre diesen nicht-aristotelischen Film hinzu.

Gegen das Vergessen

Johanna Schall, Enkeltochter von Brecht und Weigel, folgt nicht den Spuren des Typischen. In dem von ihr inszenierten Theaterabend »Vorwärts! Wir sind vergessen«, der am Mittwoch am Neuen Theater in Halle zur Premiere kam, versucht sie der Biografie von Ernst Ottwalt szenisch auf die Spur zu kommen. Es ist das eigenwillige Lebensbild eines Mannes in den Zeitläuften des 20. Jahrhunderts, das über zweieinhalb Stunden ausgebreitet wird. Ottwalt wächst in Halle auf – so lässt sich wohl die Entscheidung erklären, den Stoff hier auf die Bühne zu bringen – und wird noch als Schüler zum Freikorpskämpfer. Er ist ein Faschist der ersten Stunde. Das politische Leben des Ernst Ottwalt erfährt aber schon bald eine Zensur, der Mann wird Kommunist, erlangt Bekanntheit als Autor verschiedener Bücher, die man als Hybride aus Roman und Reportage betrachten darf. Als »Roman aus dem Leben der nationalgesinnten Jugend« firmiert sein Buch »Ruhe und Ordnung«, als »deutschen Justiz-Roman« bezeichnet er »Denn sie wissen was sie tun«.

Dann kommt es zu der Zusammenarbeit des KPDlers mit Brecht, die ihm seinen Platz in der Kulturgeschichte gesichert hat. Schall zeigt Szenen aus »Kuhle Wampe«, laut erklingt Eislers »Solidaritätslied«, dessen Sequenzen im Film immer wieder auftauchen. Die Regisseurin verschneidet die Bilder des proletarischen Films mit Bildern anderer Art, das »Solidaritätslied« vermischt sich mit Tonzeugnissen der nationalsozialistischen Bücherverbrennungen. Ein verstörender Einfall. Was kann ein »Vorwärts« in einer solchen historischen Anordnung bedeuten? Wie wenig bleibt von einem so klarsichtigen, so kraftvollen Film?

In der zweiten Hälfte der Inszenierung ist keine Rede mehr von dieser maßstabsetzenden Filmarbeit, von diesem vielleicht ersten Autorenfilm aus Deutschland. Ottwalt geht ins Exil, die Sowjetunion wird ihm Zuflucht, dann, wortwörtlich, Gefängnis. Der kommunistische Kämpfer mit faschistischer Vergangenheit wird zum Todesopfer eines Stalinismus genannten Systems.

Ante portas

Der Donnerstag, an dem es mich von Halle zurückführt nach Berlin, ist ein Feiertag, Christi Himmelfahrt, der längst seine atheistische Entsprechung als Vater-, Herren- oder Männertag gefunden hat. Brecht zeigt mit dem zweiten Teil seines Films den reaktionären Charakter des Proletariats, »lumpenkleinbürgerliche Verhältnisse« nennt er das. Vielleicht, denke ich, findet das kleinbürgerliche Verhalten heute seinen besonderen Ausdruck an Feiertagen wie diesem. Auch wenn, wie ich bemerke, die Tradition des Bollerwagens zumindest in Berlin gebrochen scheint.

Der Herrentag ist Ausflugstag. Auch ich mache mich auf, vom Hauptbahnhof in den äußersten Osten, nach Rahnsdorf, von wo man nach einem kleinen Fußmarsch zu einem Fährhafen gelangt. Wir sind ein Dreiergespann: ein bildender Künstler, ein linker Publizist und meine Wenigkeit. Augenfällig unterscheiden wir uns von den anderen – da wir vollständig bekleidet sind und von der Beschallung unserer Umwelt absehen. Ein halbes Dutzend Gruppen mit Testosteronüberschuss ist zur selben Zeit wie wir auf dem Weg.

Nach einer kurzen Fährfahrt und einem weiteren Fußmarsch gelangt man nach Kuhle Wampe, zu jenem Arbeiterzeltplatz also, dessen Name uns durch den markanten Film überhaupt noch ein Begriff ist. Eine Familie, die, nach richterlichem Beschluss, aus ihrer Wohnung geräumt wird, zieht in dem Film in jene provisorische Siedlung. »Ante portas« lautet ein verworfener Arbeitstitel des Streifens. Bald erreichen wir das Ziel unserer Wanderung. Ein Schild ruft die Berliner Verhältnisse der Vergangenheit in Erinnerung: »Arbeiterzeltplatz ›Kuhle Wampe‹ 1913–1935«, sonst erinnert nichts daran.

Voll ist es um den Müggelsee. Der durchschnittliche vollalkoholisierte Ausflügler grüßt zum Ehrentag, blickt durchdringend und ernst in entgegenkommende Gesichter und erwartet Antwort. Teils belustigt, teils eingeschüchtert, machen wir unsere Erwiderungen. Nach bereits einigen Stunden der Exkursion erreichen wir einen Biergarten in Köpenick. Hier verweilen wir, beschallt von Musik, die uns an eine schwere Jugendzeit im deutschen Osten der 90er und 2000er Jahre erinnert. Einem von uns gelingt es, Einfluss auf die Musikauswahl zu nehmen. Es erklingt lautstark, gesungen von Ernst Busch, das »Solidaritätslied«: »Reden erst die Völker selber, / Werden sie schnell einig sein.« Die anderen Gäste reagieren erst verwundert, dann amüsiert, aber wohlwollend auf den musikalischen Wechsel.

Der dritte Teil von »Kuhle Wampe« zeigt mehrtausendköpfige Arbeitersportvereine. Selbstorganisation, Selbstbewusstsein sind die Triebkräfte jener Menschen. Nichts mehr ist zu spüren von dem fest verschlossenen Blick derjenigen in den vorangegangenen Szenen. Wir werden filmische Zeugen einer Klasse, die sich ihrer eigenen Kraft bewusst ist.

Im Biergarten versammelt sich ein neues Publikum, wir bleiben sitzen und sind die einzigen Gäste, deren Waden keine Tätowierungen zieren. Fußballhooligans haben den Platz angemietet, wir werden bald nachdrücklich aufgefordert zu verschwinden. Eine ganz andere Form des selbstorganisierten Kollektivs begegnet uns damit. »Wer im Stich läßt seinesgleichen, / Läßt ja nur sich selbst im Stich«, heißt es im »Solidaritätslied«.

Wir machen uns auf den Rückweg in die Stadt. Es war ein langer Tag, es wird noch eine lange Nacht. Wir diskutieren über die Möglichkeiten marxistischer Filme heute, über Sport und Faschismus, über Musik und Gegenkultur, über den Realismus in den Künsten.

»Kuhle Wampe« endet mit einer S-Bahnfahrt. Die Vernichtung von Lebensmitteln aus ökonomischen Gründen gibt Anlass zur Diskussion. Die Ordnung aufrechterhalten – oder die neue Gesellschaft aufbauen? »Wer wird die Welt ändern?«, fragt der Bourgeois. »Die, denen sie nicht gefällt!«

Nächste Vorstellungen: 31.5, 1., 21. und 23.6.
www.buehnen-halle.de

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1159264.arbeiter-illustrierte-zeitung-knipsen-fuer-den-kommunismus.html?sstr=Slatan Dudow
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1144321.johannisthaler-filmanstalten-berlins-fast-vergessene-filmstadt.html?sstr=kuhle wampe