Das Verlockende an der Sache ist nicht Adlershof

Die Akademie der Künste und das Theater Ost widmeten sich mit einem Thementag der Schriftstellerin Anna Seghers

Es ist ein merkwürdiges Schattendasein, das die Schriftstellerin Anna Seghers in der deutschen Literaturgeschichte fristet. Zweifelsohne ist sie eine der großen Erzählerinnen des 20. Jahrhunderts. Und doch, anders als noch vor einigen Jahrzehnten, fällt ihr Name selten, wenn über herausragende Literatur gesprochen wird.

Ist etwa von der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Nachkriegsprosa die Rede, fällt schnell der Name Günter Grass. Der sozialdemokratische Faxenmacher hat immerhin ein Märchenbuch mit dem Titel »Die Blechtrommel« über jene Zeit geschrieben. Aber – möchte man rufen – was ist mit »Das siebte Kreuz« der Seghers, jenem so klugen und schönen Buch? Während der eine Autor bei der SS dem deutschen Wesen genesen half – es handelt sich hierbei um eine sogenannte Jugendsünde, wie vielerorts zu lesen ist –, verließ die andere Deutschland und überdauerte die Exilzeit in Mexiko. Während der eine in Stockholm mit einem Literaturnobelpreis über das angemessene Maß geehrt wurde, wurden die Schriften der anderen mit dem Label »DDR-Literatur« versehen, was nunmehr einer Kennzeichnung als Mängelexemplar gleicht.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Umso schöner, wenn die Seghers und ihr Werk doch noch ein Publikum finden. Der Aufbau-Verlag sorgt weiterhin für neue Ausgaben ihrer Bücher, der deutsche Kinoregisseur Christian Petzold hat 2018 mit »Transit«, spannungsvoll aktualisiert, eines ihrer Werke verfilmt. Eine Theaterfassung jenes Romans wird in diesem Jahr auch bei dem renommierten Festival d’Avignon zu sehen sein. Und schließlich wird der Seghers’schen Prosa auch vermittelt durch den Dramatiker Heiner Müller auf der Bühne zu ihrer Geltung verholfen: Seine Stücke »Die Umsiedlerin«, »Der Auftrag« und »Wolokolamsker Chaussee III: Das Duell« sind nach Motiven von ihr entstanden.

Nun haben die Berliner Akademie der Künste, die ein Literaturmuseum in der Wohnung der Schriftstellerin in Berlin-Adlershof unterhält, und das Theater Ost auf Initiative von Benjamin Zock einen Thementag zur Seghers veranstaltet, der am vergangenen Freitag stattfand. Den Auftakt bildeten Führungen durch die an Büchern volle Wohn- und Arbeitsstätte.

»Ich hoffe, daß ich im Januar nach Adlershof zurückkomme (wobei das Verlockende an der Sache nicht der Ort Adlershof ist)«, hatte die Autorin einmal per Brief an ihre Kollegin Christa Wolf, die andere große DDR-Schriftstellerin, geschrieben. In der Tat sind Umgebung und die beschaulichen Räumlichkeiten eher unspektaktulär – anders als die literarischen Schätze, die hier zu heben sind.

Die Schauspielerin Almut Zilcher, bekannt als Ensemblemitglied des Deutschen Theaters Berlin, hat Seghers’ erst im Nachlass entdeckte Erzählung »Der gerechte Richter« von 1957 im Museum vor einem interessierten Publikum gelesen. Es ist das kritische, von Zweifeln angereicherte Werk einer überzeugten Kommunistin nach den Eindrücken des Jahres 1956 und der Ereignisse in Ungarn. Seghers pflegte eine Freundschaft zu dem Philosophen Georg Lukács, der der Kurzzeitregierung Imre Nagy als Kulturminister angehörte. Mit der brutalen Instandsetzung der alten Ordnung hatte der Traum von einem »anderen Sozialismus« einen weiteren Rückschlag erhalten. Auf dem Typoskript von »Der gerechte Richter« findet sich die Notiz »Wichtig, Durcharbeiten!« von Seghers’ Hand, die Zock auch als Titel für den Thementag übernahm. Man erahnt, welche Bedeutung die Autorin jenem Text einräumte, der sehr verdichtet und doch hörbar unvollendet die Frage nach Recht und Gerechtigkeit, Überzeugung und Aufopferung stellt.

Im Theater Ost, Berlins jüngster Theaterneugründung, wurde zum Abend zu einer weiteren Lesung geladen: Die Darstellerin Ursula Werner hat der Erzählerin Seghers ihre Stimme geliehen und ihren autobiografischen Text »Der Ausflug der toten Mädchen« aus dem Jahr 1944 gelesen, wohl eines der interessanten Zeugnisse aus dem Leben der Mainzer Schriftstellerin. Nach einem Schädelbasisbruch, den sie sich bei einem Autounfall in Mexiko zuzog, schreibt sie diese Orte und Zeiten immer wieder wechselnde Erzählung. Ausgehend von ihrem Krankenhausaufenthalt und in Erwartung einer Rückkehr nach Deutschland beschreibt sie eine Gruppe von Klassenkameradinnen, sie selbst ist darunter, und zeichnet deren Schicksale nach – vom Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg. Die deutsche Geschichte bedeutete auch einen Raub von Kindheit und Freundschaft. Es handelt sich um einen soghaften Text, der zwischen sachlichem Bericht, Totentrauer und Anklage changiert und jene an Opfern reiche Zeit nuancenreich beschreibt.

»Man muss die Toten ausgraben, wieder und wieder, denn nur aus ihnen kann man Zukunft beziehen«, wusste der bereits erwähnte Heiner Müller zu sagen. Der ausschnitthafte (Wieder-)Einblick in Anna Seghers’ Œuvre durch diese zwei sehr unterschiedlichen Texte lässt einmal mehr klar werden, dass die Schriftstellerin uns noch immer einiges zu sagen hat. Die nicht bloß affektive, sondern kluge, durchdachte Auseinandersetzung mit der Geschichte kann man bei ihr lesend zur Kenntnis nehmen und von ihr lernen. Für heute. Für die Zukunft. Anna Seghers’ literarische Arbeit an den Abgründen der deutschen Geschichte bleibt aktuell – genauso wie ihre gesellschaftlichen Träume.

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