Konkrete Kriegspläne

Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan plant eine neue Offensive gegen die YPG in Nordsyrien

  • Christopher Wimmer, Qamischli
  • Lesedauer: 5 Min.
Die syrische Stadt Qamischli im Nordosten Syriens liegt direkt an der türkischen Grenze und ist eine der wichtigsten Städte in den kurdischen Selbstverwaltungsgebieten (Rojava). Im Hintergrund erkennt man die türkische Stadt Nusaybin, getrennt durch eine Grenzmauer.
Die syrische Stadt Qamischli im Nordosten Syriens liegt direkt an der türkischen Grenze und ist eine der wichtigsten Städte in den kurdischen Selbstverwaltungsgebieten (Rojava). Im Hintergrund erkennt man die türkische Stadt Nusaybin, getrennt durch eine Grenzmauer.

»Wie kann man einen Krieg erklären, wenn bereits seit Jahren Krieg herrscht?« Diesen oder ähnliche Sätze hört man gegenwärtig in Qamischli (kurdisch: Qamişlo), der mit rund 200 000 Einwohner*innen größten überwiegend kurdisch geprägten Stadt in Syrien. Auch wenn man den Trotz, der daraus spricht, spürt, herrscht doch die Sorge vor einem erneuten Ausbruch des Kriegs in Nord- und Ostsyrien.

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Grundlage hierfür ist die Ankündigung des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdoğan von vergangener Woche, militärisch gegen die autonome Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien vorzugehen. Erdoğan kündigte an, einen 30 Kilometer breiten »Sicherheitsstreifen« entlang der Grenze besetzen zu wollen, um »terroristische Bedrohungen« aus der Region zu bekämpfen und um dort eine Million arabische Flüchtlinge aus anderen Teilen Syrien anzusiedeln, die in die Türkei geflohen waren. Der Nationale Sicherheitsrat der Türkei hatte bereits letzten Donnerstag den Einmarsch gebilligt. Dieser werde ohne Vorankündigung starten, so Erdoğan. Kämpfe würde es wohl insbesondere nördlich von Aleppo und um Kobane geben, doch auch die bisher verschonte Stadt Derik könnte nun ein Ziel werden, so berichten lokale Quellen. Am Mittwoch erklärte Erdoğan, dass er zunächst die Städte Tell Rifat und Manbidsch (kurdisch: Minbic) »von Terroristen räumen« wolle.

Der Norden und Osten Syriens, das Gebiet, auf das die geplante Militäroperation abzielt, wird maßgeblich von der »Partei der Demokratischen Union« (PYD) kontrolliert und von deren bewaffneten Volksschutzeinheiten (YPG/YPJ) verteidigt. Die Türkei betrachtet die Partei und die Streitkräfte jedoch als Ableger der »Arbeiterpartei Kurdistans« (PKK), die als »terroristische Organisation« angesehen wird. Das Gebiet wird durch die autonome Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien demokratisch selbstverwaltet. Mit Kurdisch, Arabisch und Syro-Aramäisch gibt es offiziell drei Amtssprachen. Positionen in der Verwaltung sind immer paritätisch mit einem Mann und einer Frau besetzt. Seit nunmehr zehn Jahren besteht das basisdemokratische Projekt und muss sich seitdem gegen zahlreiche Feinde, vor allem die Türkei, den sogenannten Islamischen Staat (IS) oder das Assad-Regime verteidigen. Abdulkarim Omar, der Außenbeauftragte der Selbstverwaltung, erklärte dazu in Qamischli: »Die Drohung der Türkei ist ein weiterer Versuch, die Region zu destabilisieren. Dies trägt zur Wiedererstarkung des IS und anderer terroristischer Gruppen bei.« Die Selbstverwaltung hat darüber hinaus in einem offenen Brief an die internationale Gemeinschaft einen Plan gegen die Invasionspläne der Türkei vorgeschlagen, der unter anderem den Einsatz von Friedenstruppen und die Verhängung eines Flugembargos über Nord- und Ostsyrien zum Schutz der Zivilbevölkerung vorsieht. Khaled Davrisch, der Vertreter der Selbstverwaltung in Berlin, ergänzte, dass »ein Kniefall vor Erdoğan die Bemühungen um eine friedliche Lösung in Syrien torpedieren« würde.

Aus Reihen der Volksschutzeinheiten hieß es, dass sie sich im Falle eines türkischen Angriffs vom Kampf gegen den weiterhin aktiven IS zurückziehen und ihre »militärischen Maßnahmen« gegen die türkische Invasion richten würden. Auch bisherige türkische Militäreinsätze in Syrien richteten sich gegen die PYD und die YPG/YPJ. Die Türkei ist in der Vergangenheit immer wieder gegen mehrheitlich von Kurd*innen bewohnte Gebiete vorgegangen. Im Verlauf von drei völkerrechtswidrigen Angriffskriegen in den Jahren 2016, 2018 und 2019 haben Streitkräfte des Nato-Mitglieds Gebiete an der Grenze unter ihre Kontrolle gebracht. Menschenrechtsgruppen haben diese Operationen heftig kritisiert: Hunderttausende Zivilist*innen wurden vertrieben, es kam zu Morden und Vergewaltigungen. Anstelle der angestammten Bevölkerung wurden – gesteuert von der Türkei – islamistische Milizen und ihre Angehörigen angesiedelt. Bereits 2020 forderten die Vereinten Nationen die Türkei auf, Kriegsverbrechen in den von ihr kontrollierten Gebieten zu untersuchen.

Nun kam es in den letzten Wochen erneut zu weiteren Verschärfungen. Bei mindestens 40 Drohnenangriffen auf Rojava wurden 16 Menschen getötet und Dutzende verletzt. Doch nicht nur in Nord- und Ostsyrien, auch in anderen kurdischen Gebieten führt die Türkei Krieg – ohne, dass dies vom Westen kritisiert wird. Seit Mitte April kämpfen türkische Soldaten in der Region Kurdistan im Nordirak, da sie dort PKK-Kämpfer*innen vermuten. Zahlreiche Dörfer werden von Kampfjets und Hubschraubern bombardiert und es kommt zu heftigen Gefechten mit Artilleriegeschützen. Ebenso gibt es Berichte über den Einsatz von Giftgas. Auch diese Invasion wird vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags als völkerrechtswidrig eingeschätzt. Von Seiten des Ministerpräsidenten der Region Kurdistan, Masrour Barzani, ist dabei jedoch keine Kritik zu erwarten – er hat sich immer weiter Erdoğan angenähert und steht der kurdischen Selbstverwaltung in Syrien kritisch gegenüber.

Die Kritik an den völkerrechtswidrigen Kriegen der Türkei bleibt somit bisher fast vollständig aus. Derzeit blockiert die Türkei zudem noch die Aufnahme Finnlands und Schwedens in die Nato, weil sie beiden Ländern vorwirft, die PYD und die YPG/YPJ zu unterstützen: »Wer Waffen und Ausrüstung, die sie der Türkei trotz Bezahlung vorenthalten, gratis an die Terrororganisation übergibt, verdient den Titel eines Terrorstaates, nicht eines Rechtsstaates«, so Erdoğan am Mittwoch, ohne Beweise für diese Behauptungen vorzulegen. Am gestrigen Donnerstag warnte nun US-Außenminister Antony Blinken die Türkei vor einer Invasion. Diese würde »die regionale Stabilität untergraben.« Für Erdoğan scheint ein neues außenpolitisches Abenteuer jedoch fast unausweichlich. Kommendes Jahr finden in der Türkei Präsidentschaftswahlen statt, und innenpolitisch ist die Lage verheerend: Die Türkei leidet unter einer massiven Wirtschafts- und Finanzkrise; dafür soll nun offenbar die kurdische Selbstverwaltung den Preis bezahlen.

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